openmedi

2015-09-03-Nachmittag

Gerade frisch aus der Einführung zu meinem ersten Kurs “Understanding International and Global History“, der mich überrascht zurücklässt. Und ich schätze, dass das gut ist. Die ersten 90 Minuten gingen für eine Vorstellungsrunde - wir waren etwa 10 Leute - und die Diskussion einer gestellten Diskussion drauf, die sich die Frage stellte, was denn transnationale Geschichte nun sei.[^1]

Es passiert eigentlich immer dasselbe, wenn ich mich vorstelle. Ich sage, dass ich Geschichte der Wissenschaften und Technik studiere, mich innerhalb des Feldes für die Geschichte der Botanik begeistern kann, mich darüber hinaus für Historiografie und für die Geschichte der Theorie interessiere. Und das alles aus einer ANT-Perspektive heraus. Dann wird geraunt im Raum und diejenigen nach mir lachen entweder eingeschüchtert oder wollen am liebsten gar nichts sagen. Zumindest sind sie beeindruckt. So auch diesmal. Mich erfüllt das mit einer diffusen Mischung aus Stolz und Verwirrung, weil das reine Aufsagen von Interessen noch keine Reaktionen dieser Art nach sich ziehen sollten. Aber, dass das in dieser Weise passiert, lässt in mir trotzdem den Eindruck entstehen auf dem richtigen Weg zu sein.

Die eigentliche Diskussion des Textes, den ich vorher gelesen hatte, das war aber nicht verpflichtend, funktionierte nach folgendem, mir bisher unbekanntem, Modus: Wir wurden in Zweierpärchen eingeteilt und uns wurde ein_e Teilnehmer_in aus der Diskussion zugeteilt. Danach hatten wir eine halbe Stunde die jeweiligen Kernthesen bezüglich transnationaler Geschichte herauszuarbeiten. Schließlich stellten wir unsere kurzen Ausarbeitung in ca. 5 Minuten vor, wobei die soziale Ordnung hier interessante Effekte zeitigte: Vorgestellt wurde nämlich nicht zum Plenum hin, sondern zur Lehrperson, die ihrerseits die jeweiligen Beiträge abschließend kommentierte, was eigentlich immer darauf hinauslief, dass sie “ja, aber…” antwortete. Dies wiederum sicherte ihr die Autorität im Raum, weil auf diese Weise das letzte Wort immer zu Gunsten der Lehrperson ging. Ich versuchte die Sache ein wenig aufzulockern/zu testen, in dem ich die Interpretation der gemachten Punkte im Hinblick auf ihre sozial ordnende Bedeutung innerhalb der Community der Transnationalen Historiker_innen zu betonen versuchte[^2], denn das musste notwendig auch die Lehrperson, die ja Teil dieser Community war, herausfordern. Dies funktionierte nicht so recht. Die Argumente wurden im Prinzip auch wieder durch “ja, aber”-Sagen abgewiesen. Interessant war aber, dass die Diskussion, die ich mit meinem_r Partner_in hatte, bevor wir die Sache vorstellten, mitgehört und für die “kanonische Bedeutungskonstruktion”, wie ich das hier mal provisorisch nennen will, verwendet wurde.

Das Ergebnis dieses Vorgangs war im wesentlichen eine sehr effektive, sehr hermeneutische (jedenfalls von der Gestik her) Herangehensweise, die im Vergleich zu den von mir gewohnten Berliner Verhältnissen wesentlich weniger offen und wesentlich weniger anspruchsvoll war. Die Spielregeln der Diskussion hatten zur Folge, dass alle etwas sagen mussten und das war dank der Übersichtlichkeit der Aufgabe auch möglich.

Ich geb’s zu: Wenn das die Art und Weise ist, wie sich der Kurs hier darstellen wird, dann werde ich mich vermutlich eher langweilen. Gut und herausfordernd hingegen ist das Lesepensum. Dadurch, dass wir wöchentlich sechs Stunden lang gemeinsam verbringen werden, kann man eine Menge Stoff durchnehmen, was wiederum bedeutet, dass eine Menge Stoff vorbereitet werden muss.

  • Folgendes Lesematerial wird für Feldneulinge empfohlen:
    • Anthony Best et al.: International History of the Twentieth Century, Routledge (2004), pp. 1- 184.
  • Folgende Bücher sind soweit ich das sehen kann Pflichtlektüre
    • Akira Iriye: Global and Transnational History. Past, Present, Future, Palgrave Pivot 2012
    • Robert R. Jackson and Georg Sørensen: Introduction to International Relations. Theories and Approaches, Oxford University Press, 5th edition 2012
  • Diese Texte sind außerdem zum jeweiligen Datum zu lesen
    • Patrick Finney: “Introduction: What is international history?” in Patrick Finney (ed.): Palgrave Advances in International History, Palgrave Macmillan, 2005 pp. 1-35
    • Sally Marks: The Illusion of Peace. International Relations in Europe, 1918-1933, Macmillan Press 1976 (book available from ‘semester shelf’ in the Nobel library); Please focus your reading on chapters 1, 2 and 6 (pp. 1-54, 137-46).
    • Zara Steiner: The Lights that Failed. European International History 1919-1933, Oxford University Press, 2005, pp. v-x (preface) and 1-11 (prologue)
    • Susan Pedersen: “Back to the League of Nations”, American Historical Review vol. 112, no. 4, 2007, pp.1091- 1117
    • Patricia Clavin: Securing the World Economy. The Reinvention of the League of Nations, 1920-1946, Oxford University Press, 2013, pp. 1-10, 341-51
    • Pierre-Yves Saunier: ‘Transnational’, entry in: Pierre-Yves Saunier and Akira Iriye (eds.): The Palgrave Dictionary of Transnational History. From the mid-19th Century to the Present Day, Palgrave Macmillan, 2009, pp. 1047-1055
    • Kiran K. Patel: “”Transnations” among “Transnations”. The Debate on Transnational History in the United States and Germany”, Harvard University Center for European Studies Working Paper Series 159/2008
    • Ann-Christina L. Knudsen and Karen Gram-Skjoldager: “Historiography and Narration in Transnational History”, Journal of Global History, vol. 9, no.1, 2014, pp. 143-61
    • Ann Christina L.-Knudsen and Karen Gram-Skjoldager: “An Introduction” in Living Political Biography. Narrating 20th Century European Lives, Aarhus University Press (2012), pp. 13-30
    • Bruce Mazlish: “An Introduction to Global History”, in Bruce Mazlish and Ralph Buultjens (eds.): Conceptualising Global History, Boulder: Westview Press, 1993, pp. 1-24
    • Kenneth Pomeranz “Review by Kenneth Pomeranz” in The International History Review, Vol. 28, No. 1 (March 2006), pp. 167-170.
    • Patrick O’Brien “Historiographical traditions and modern imperatives for the restoration of Global history” in Journal of Global History, 1 (2006), pp 3-39.
    • earlyamericanists.com
    • imperialglobalexeter.com
    • imperialandglobal.exeter.ac.uk of-global-history-courses/
    • Erez Manela. “Dawn of a New Era: The “Wilsonian Moment” in Colonial Contexts and the Transformation of World Order, 1917-1920”, in: Sebastian Conrad and Dominic Sachsenmaier (eds.): Competing Visions of World Order, Palgrave Macmillan, 2007
    • Andrew Arsan, Su Lin Lewis and Anne-Isabelle Richard: ”Editorial – the roots of global civil society and the interwar moment”, Journal of Global History, vol. 7, no.2, 2012, pp. 157-165
    • John Lewis Gaddis: “History, Theory and Common Ground”, International Security, Vol. 22, No. 1, Summer 1997, pp.75-85
    • Robert Jackson and Georg Sørensen: Introduction to International Relations: Theories and Approaches, Oxford University Press, (4th edition, 2010/5th edition 2012), pp. 28-180 in the 2010 edition/pp.32-178 in the 2012 edition (focus on chapters on realism, liberalism and post-positivist approaches (chapter numbers differ between the two editions))

Die Bewertung des Kurses funktioniert dabei nach dem Prinzip der Beantwortung eines Examensfrage im Umfang von 15 Seiten. Die Antwort muss innerhalb von sieben Tagen eingereichte werden.

Einen weiterer Kurs im gleichen Umfang, bei der gleichen Lehrperson, werde ich ab Oktober besuchen. Es wird ein stressiges Semester, wenn man bedenkt, wie schwierig derzeit noch die Einrichtung und Durchhaltung von Routinen ist.

Mir gefällt das alles nicht wirklich. Hinzu kommt das schlechte Gewissen, dass ich wenigstens noch die BenjaminLatour-Arbeit schreiben und auch eine mündliche Prüfung am Ende Semesters in Berlin machen muss. Mal ganz davon abgesehen, dass mich es gerade mal wieder zerreißt.


Gestern hatte ich Geburtstag und habe mit einer guten, guten Freundin - wenigstens das lässt sich jetzt schon behaupten - dem historischen Start des ersten dänischen Astronauten Andreas per Livestream im Søauditorierne beigewohnt. Medien waren da und eine Menge Leute. Früh musste ich aufstehen: 03:30 Uhr hatte der Wecker geklingelt. Meine Unfähigkeit Dänisch zu verstehen führt dazu, dass ich mich allein auf die Bilder konzentrieren konnte. Immerhin war der Livestream, die 15 Minuten, die ausschließlich dieser gezeigt wurde, in Englisch. Was mir dabei mal wieder klar wurde:

Wie ungemein seltsam mein Feld (STS oder Science Studies oder was immer ich auch mache…) eigentlich ist. Wie ist es möglich, dass ich mich intelligent zu wissenschaftlichen Entwicklungen äußern kann, obwohl ich selbst kein Astronom bin? Und was bedeutet meine Beschäftigung eigentlich? Warum sollte sich irgendjemand dafür interessieren? Möglicherweise findet man ein Interesse lediglich vor, aber wer weiß? Es erstaunte und erschreckte mich gleichermaßen, wie diese spezielle Situation das Projekt einer Anthropologie der Moderne, zwar nicht in Frage stellte, doch aber mir plötzlich gegenüber der hier gezeigten Wissenschaftskultur bewusst wurde. Soll heißen: Die relationale Beschreibung ist zu unterscheiden vom zu Beschreibenden. Mit Latour fliegt man nicht zur ISS. Aber man versteht besser wie es geht, wenn mir diese hermeneutische Wendung hier erlaubt sei. Ein interessantes Paradox. Die ganze Veranstaltung erinnerte mich daran, wie sehr ich mir die Realität der jeweiligen wissenschaftlichen Welt immer wieder vor Augen halten muss.

Folgendes schrieb ich an meine Großeltern:

”Liebe Hähnels: Ein kleiner Schritt für mich, ein großer Schritt für die dänische Menschheit. Ich bin - an meinem Geburtstag! Und das als Eule! - 03:30 Uhr aufgestanden um einem wissenschaftshistorischen Moment beizuwohnen. Heute wurde nämlich nicht nur ich ein Jahr älter, sondern außerdem der erste Mensch dänischer Nationalität mit einer Rakete vom Typ Soyuz TMA-18M vom kasachischen Baikonur Kosmodrom, dem größten Raketenstartplatz der Welt, um 04:37 und 43 Sekunden Ortszeit (06:37 Aarhuser Zeit) gemeinsam mit einem kasachischen und einem russischen Kosmonauten in den Weltraum geschossen. Andreas Mogensen wird zwei Tage in der Kapsel auf Kontakt mit der Raumstation warten und anschließend auf der ISS 8 Tage verschiedene Experimente durchführen, bevor es wieder zurück geht. Ich war mit einer Freundin also wie gesagt in aller Herrgottsfrühe im Søauditorierne der Aarhuser Universität um einer Liveübertragung des Ereignisses beizuwohnen. Es war toll. Ich habe bei den vielen Kleinsvorträgen zwar nur Smørrebrød verstanden, aber die Bilder sprachen für sich (und zumindest der unmittelbare Start wurde auf Englisch kommentiert). Ein tolles Erlebnis, dass vielerlei Gedanken und Gefühle in mir auslöste, die ich erstmal setzen lassen muss, bevor ich sehen kann, was dort aufgewirbelt wurde. Ich hoffe es geht euch gut. Mir geht’s sehr. Liebe Grüße, ich denke an euch Martin”

Abends dann buken wir, d.h. neu gemachte Freunde von mir, die erstaunlich gut zusammenpassten (Schicksalsgemeinschaft; aber darüber hinaus wurde hauptsächlich herzlich gelacht und sich wirklich aufeinander eingelassen) und ich Pizza gemeinsam und das war sehr schön. Es ging länger als erwartet, was immer ein guter Indikator ist. Mit meinen 29 Jahren bin ich allerdings mit ziemlichem Abstand der Älteste. Nicht nur in dieser Gruppe, sondern insgesamt unter den internationalen Austauschstudis. Mich stört das nur, wenn ich daran denke, dass all das Positive hier auch schon früher hätte geschehen können, wenn ich nicht drei Jahre in Bremen herumgepimmelt hätte. Aber das sucht man sich ja nicht wirklich aus.


Sorgen bereitet mir so einiges:

  1. Ich genieße die Zeit hier sehr
  2. Mein schlechtes Gewissen ist groß
  3. Das liegt daran, dass es finanziell kurz und mittelfristig eher düster aussieht und eine Chance auf Besserung einzig darin besteht den Master in 2016 abzuschließen
  4. Ich fühle mich intellektuell unter- und bezüglich dem Folgen von Autorität überfordert
  5. Was ich meine: Ich will diese andere Lehrkultur ernst nehmen und verstehen lernen, aber es bereitet mir doch einige Schmerzen
  6. Ich spüre meine “Senioritis” stark
  7. Ich spüre und sehe mein Alter
  8. Ich kann meinen eigenen Ansprüchen unter dem hier herrschenden Regime nicht gerecht werden

Und all die schlechten Sachen wiegen die guten nicht auf, umgedreht aber leider auch nicht. Und so schwebe ich irgendwo dazwischen. Ich bin also hauptsächlich glücklich, bzw. kann mich so schätzen. Es bleibt aber ein Glück “with strings attached”.[^3]

[^1]: C. A. Bayly u. a., AHR Conversation: On Transnational History, in: The American Historical Review, 111/5, 2006, 1441–1464.

[^2]: Steven Shapin, Simon Schaffer, Leviathan and the air-pump: Hobbes, Boyle, and the experimental life, Princeton, N.J (Princeton University Press) 2011, S.: xlix - “Leviathan and the Air-Pump was an attempt to see the problem of knowledge and the problem of order as the same problem. Wherever and whenever groups of people come to agree about what knowledge is, they have practically and provisionally solved the problem of how to array and order themselves.”

[^3]: Hier ganz ausgeklammert die schreckliche und unhaltbare Flüchtlingssituation in Europa und Deutschland. Der gewaltsame Rechtsruck in meinem Heimatland. Wie ich im ersten Aarhus-Eintrag schon sagte: “Im Hinblick auf die nächtliche und sehrfrühmorgendliche Fahrt hier her, mit ICE, Regional Express, Regional Bahn, Bus und einem dänischen, sehr angenehmen LYN (was wohl für “Blitzschlag” steht) bekam ich den etwas pelzigen Geschmack nicht ganz vor der Zunge, dass es sich hier um ein exklusives und (zu?) gut verteidigtes Fleckchen der Festung Europa handelt: POC wurden von uns übrigen Reisenden getrennt. Es wurden Pässe verlangt. Mein Eindruck war: Nicht alle durften weiterreisen. Es waren Familien mit Kindern darunter! Ich selbst stand dem so machtlos gegenüber, wie ein Stück Vieh, dass seinen nächsten LKW auf dem Weg zur Wurstfabrik (= Stufe auf der Karriereleiter = Auslandssemester = Qualifikation für späteres Arbeiten im wissenschaftlichen Beruf) erreichen muss und daher all diese schemenhaften Eindrücke überhaupt nicht empirisch fixieren kann. Ich fühlte mich in dieser gespenstisch uneindeutigen Mélange aus komplizierten Gefühlen und unklaren Impressionen an Children of Men erinnert.”

2015-08-14-Vormittag

Kaum schreibe ich gestern, dass ich es mit dem frühen Aufstehen gut hinbekäme, verschlafe ich den nächsten Tag. Macht aber auch nichts, heute bin ich ohnehin nur kurz in der Bibliothek, weil ich bereits 15:30 Uhr zum Barbier gehe. Die ganze Zeit dachte ich, dass mir mein gestriger Journaleintrag nicht gelungen sei. Er wirkte so abwesend und unausgegoren, fast überflüssig. Vielleicht hätte ich meine immer noch vorhandene Unsicherheit anders beschreiben sollen. Jedenfalls war das das Gefühl gestern Abend und heute morgen. Jetzt, da ich den Eintrag noch mal gelesen habe, ist der Eindruck aber wieder ein ganz anderer. Seltsam.

In der Kantine der Bib bekommt man jedenfalls Tee für vier Kronen. Man bekommt hier keine Käsesandwiches oder andere vegetarische Mahlzeiten/Snacks, die über die Salatbar hinausgehen. Das ist etwas problematisch, weil ich heute morgen ganz ohne Frühstück los bin, spät dran, wie ich war.

Jedenfalls werde ich heute versuchen einen vegetarischen Mittagstisch in Campusnähe aufzutreiben. Von Berlin bin ich da ja sehr verwöhnt: Es gibt so gut wie keinen Supermarkt ohne vegetarische Fleischersatzprodukte und in den Mensen und Caféterien, gibt es neben Fleisch und Fisch eigentlich immer mindestens eine vollwertige vegetarische Mahlzeit. Die Situation in Aarhus ist da etwas anders. Hier muss man sich aktiver um diesen Lebensstil bemühen, spezielle Läden aufsuchen, usw. Aber vielleicht ist das eine gute Lockerung für mich, wenn ich mal für etwas, was mir persönlich wichtig ist und dass nichts mit lesen und schreiben zu tun hat (zumindest nicht in erster Linie) strecken muss. Jedenfalls werde ich am Sonntag wohl eine vegetarische VoKü besuchen. Vielleicht lerne ich dann ja auch gleich ein paar nette Leute kennen.

paar Links:

P.S.: All diese Aussagen haben selbstredend vorfristigen Charakter. Diese Seite (siehe “Vegetarian Options”) macht den Eindruck, dass das Vegetariersein in Aarhus nicht wirklich Probleme macht.

P.P.S.: Diese Seite hingegen lässt wiederum einen gegenteiligen Eindruck entstehen. Vermutlich ist beides nicht ganz falsch.

2015-08-10-Abend

Nachdem ich das Wochenende sehr ruhig anging und mich eigentlich kaum aus der Wohnung bewegte (war lediglich noch einmal einkaufen), machte ich heute eine größere Runde durch die Stadt: Zuerst gab ich meinen Mietvertrag beim International Center ab und wohne damit auch offiziell hier. Es ist immer noch seltsam in einem solchen, auf mich sehr teuer wirkenden, modernen Gebäude zu wohnen. Anschließend besuchte ich dann diesmal auch erfolgreich Løve’s Antikvariat und es stellt sich heraus, dass es erstens ein sehr schönes kleines Kellerantiquariat ist, dass zweitens immerhin zwei Regalbretter deutsche Bücher (und anderthalb Regale englische Bücher) im Angebot hat und drittens die deutschen Bücher zum größten Teil aus dem Bereich Avantgarde (z.B. Theorie der Avantgarde), kritische Theorie (z.B. Traditionelle und Kritische Theorie) und Marxismus (viel Brecht, wenn das zählt, etwa seine Gedichte) zu stammen scheinen. Das trifft sich sehr gut, schreibe ich doch gerade über Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz eine Hausarbeit.

Die deutschen Regalbretter im Løve's
Die deutschen Regalbretter im Løve's

Toll war, dass es sich bei dem Antiquariat anscheinend um eine Kellerwohnung zu handeln schien, wie die Küche, die in den Öffnungszeiten ebenfalls Verkaufsraum war, verriet. Zu gerne hätte ich mit der Verkäuferin kurz darüber gesprochen, aber sie war ihrerseits ebenfalls in ein Gespräch mit einer Freundin wie mir schien vertieft und so machte ich mich - fürs Erste auch ohne Buch (denn sie waren nicht ganz billig, um die 100 Dänische Kronen und für den Preis muss wenigstens ein kurzes Gespräch rausspringen…) - auf den Weg.

Nächster Halt war die Statsbiblioteket. Hier ließ ich mir einen temporären Ausweis ausstellen. Temporär deshalb, weil ich noch keine sogenannten CPR-Nummer habe und ohne diese kann man im Prinzip nichts in Dänemark machen. Na ja fast nichts. Temporäre Ausweise für die zentrale Bibliothek in Aarhus kriegt man jedenfalls, wenn man nett fragt. Die Bibliothek erstaunt vor allem wegen ihrer verhältnismäßigen Kleinheit. Der Hauptgrund dafür liegt in der Absenz eines großen Präsenzbestandes zu suchen. Wie mir erklärt wurde, müsste man Bücher bestellen und könnte diese dann am nächsten Tag abholen. Das Fehlen eines Präsenzbestandes, der es ermöglicht thematisch ähnlich einsortierte Literatur durch schlichtes Orten des gesuchten Buchs ähnliche Bücher zu finden, das Fehlen dieser Heuristik, hat vermutlich interessante Folgen. Oder: Was wäre eine Bibliothek von der Query her gedacht? Die Querylogy, oder Theorie der Abfragesysteme von @spro ist m.E. eigentlich die interessanteste Sache, die seine Beschäftigung mit dem Netz zu Tage brachte. Für mich ist die Theorie der Abfragesysteme nicht nur wegen ihrer Theorie interessant, sondern vor allem für ihre These, dass das Zeitalter des Archivs sich seinem Ende zuneigt. Im Hinblick auf die Bibliothek in Aarhus, die einen konkreten Fall dieses Wechsels darzustellen scheint, darf man nicht vergessen, dass eine Behauptung, das Zeitalter des Archivs sei vorbei, keineswegs für alle Akteure stimmen kann. Irgendjemand muss die Bücher anschaffen, die Bücher müssen irgendwie untergebracht werden, der ganze Apparat der Verfügbarhaltung für Abfragen ist nichts weniger als ein Archiv, allerdings in etwas anderer Form. Ich kenne mich zu wenig in der Geschichte von Bibliotheken allgemein und mit der in Aarhus im Speziellen aus, um beurteilen zu können, ob diese “Speichertechnologie” (man könnte wohl auch hier Plattform sagen…) in ihrer Struktur sich verändert hat. Vergleicht man diese moderne Bibliothek jedenfalls mit dem kleinen Antiquariat, dass seine Bücher nach einer anderen Art verfügbar hält, dann können wir leicht einsehen, dass diese Differenzen durchaus zu beschreiben wären. Dass ich überhaupt einsehen und charakterisieren konnte, was das Antiquariat für eine deutsche Bücherauswahl hat, liegt nicht zuletzt an der Art der Verfügbarhaltung. “Von der Query her gedacht” hieße also hier: beide Bücherspeichertechnologien, so unterschiedlich diese Akteur-Netzwerke auch konkret aussehen, mag man sich auch als Abfragen an die Datenbank der Realität vorstellen - und warum auch nicht, ich spreche ja auch ständig vom Relationalismus -, man würde aber wahrscheinlich am Ende zu etwas kommen, was man wohl gut und gerne als “gespeicherte Suche” bezeichnen könnte. Kurz: Eine Auswahlstrategie, d.h. eine Query, die in irgendeine Materialität überführt, oder besser noch: an sie gebunden wird, eine Auswahlstrategie also, die irgendwie stabilisiert wird, stellt in der Sprache der Querylogy eine gespeicherte Suche und damit eine Speichertechnologie dar.

Jedenfalls bestellte ich mir sowohl Kierkegaards (siehe Abt. 38) als auch Hans Christian Andersens Tagebücher und außerdem die Junius-Einführung von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno.

Der Ikea in Aarhus
Der Ikea in Aarhus
Eine Businformation in Aarhus
Eine Businformation in Aarhus

Anschließend machte ich mich auf den Weg zum IKEA. Mit dem Bus. Das ging auch alles. IKEA nahm mir fast die ganze Energie und außerdem eine Menge Geld ab, wobei man realistischerweise sagen muss, dass letzteres - ich kaufte ein paar Aufbewahrungssachen und außerdem eine Decke und ein Kissen, jeweils vom billigsten; alles etwa 350 DKR - in einem anderen Laden weit schlimmer ausgefallen wäre. Aber dafür war ich ja auch bei IKEA. Auf der Hin- und Rückfahrt beschäftigte mich hauptsächlich die Frage, wie man die gleichen Probleme - ein Jahr in einem fremden Land und es fehlt so ziemlich an allen Gegenständen des täglichen Bedarfs und darüber hinaus an intellektuellem und kulturellem Austausch - umgegangen ist. Wäre ich vor hundert Jahren in Aarhus angekommen, was hätte mich erwartet? Natürlich kam ich zu keinem Ergebnis, weil ich die Stadt ja noch überhaupt nicht kenne. Klar ist jedenfalls, dass ich sehr viel abhängiger gewesen wäre und wahrscheinlich im Antiquariat nachgefragt hätte, woher diese interessante Zusammenstellung kritisch-theoretischer Bücher herkam. Ich hätte mich fragen hören können: “Gehört zu dieser Zusammenstellung eine Person? Taucht diese hier öfter auf?” Und dann fiel mir auf, dass ich das ja auch heute machen kann, selbst wenn ich keineswegs so intellektuell ausgehungert bin, wie ich es vielleicht vor hundert Jahren gewesen wäre, dem Internet sei dank.

Nichtsdestotrotz scheint es mir wichtig Kontakte zu knüpfen. Ich schrieb also auch gleich mal an Matthias Heymann vom Center for Science Studies, um mich vorzustellen und verschiedene Dinge bezüglich meines Besuchs von Kursen in den Science Studies abzuklären und bekam prompt Antwort, dass ich doch gern mal vorbeikommen könne. Wird gemacht. Als ich vorhin zur Tür reinkam, traf ich außerdem auf meinen Mitbewohner M., der eine Australische Frohnatur zu sein scheint und dementsprechend angenehm gestaltete sich unser erstes Gespräch. Auch er bleibt ein Jahr. Wir redeten über unsere Bleibe, Australien, Deutschland und das Bildungssystem in den jeweiligen Ländern. Er ist 20! Ich denke, wir werden klar kommen und hoffe gleichzeitig, dass er es mit mir, einem etwas eigenbrödlerischen, aber trotzdem freundlichen Nerd, wird aushalten können.

Source: C:\fakepath\IMG_1686.jpg
Source: C:\fakepath\IMG_1686.jpg

Morgen: Da die Bibliothek um 8 auf- aber schon um 17 Uhr zumacht, werde ich früh aufstehen und versuchen mir diesen Rhythmus gleich anzugewöhnen. Ohne Bibliotheksarbeit bin ich nämlich nichts. Ich werde mir Das Benjamin-Handbuch weiter zu Gemüte führen und auf die bestellte Tagebuchlektüre warten. Außerdem werde ich versuchen einzuschätzen, ob sich ein Dänisch-Kurs, den man hier kostenlos machen kann, lohnt, bzw. über dieser mir gut ins Konzept passt. Schließlich müssen eine Menge Kurse besucht und eine nicht unerhebliche Anzahl Hausarbeiten geschrieben werden. Vom darüber hinausgehenden Leseinteresse mal ganz abgesehen.

P.S.: Ach und jetzt habe ich gar nichts zu dem gesagt, womit ich mich am Wochenende hauptsächlich beschäftigt habe: Meiner Zettelkastenimplementation in DevonThink nämlich. Nun. Das wird nachgeliefert.

Source: C:\fakepath\IMG_1690.jpg
Source: C:\fakepath\IMG_1690.jpg
You are not logged in