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2015-09-03-Nachmittag

Gerade frisch aus der Einführung zu meinem ersten Kurs “Understanding International and Global History“, der mich überrascht zurücklässt. Und ich schätze, dass das gut ist. Die ersten 90 Minuten gingen für eine Vorstellungsrunde - wir waren etwa 10 Leute - und die Diskussion einer gestellten Diskussion drauf, die sich die Frage stellte, was denn transnationale Geschichte nun sei.[^1]

Es passiert eigentlich immer dasselbe, wenn ich mich vorstelle. Ich sage, dass ich Geschichte der Wissenschaften und Technik studiere, mich innerhalb des Feldes für die Geschichte der Botanik begeistern kann, mich darüber hinaus für Historiografie und für die Geschichte der Theorie interessiere. Und das alles aus einer ANT-Perspektive heraus. Dann wird geraunt im Raum und diejenigen nach mir lachen entweder eingeschüchtert oder wollen am liebsten gar nichts sagen. Zumindest sind sie beeindruckt. So auch diesmal. Mich erfüllt das mit einer diffusen Mischung aus Stolz und Verwirrung, weil das reine Aufsagen von Interessen noch keine Reaktionen dieser Art nach sich ziehen sollten. Aber, dass das in dieser Weise passiert, lässt in mir trotzdem den Eindruck entstehen auf dem richtigen Weg zu sein.

Die eigentliche Diskussion des Textes, den ich vorher gelesen hatte, das war aber nicht verpflichtend, funktionierte nach folgendem, mir bisher unbekanntem, Modus: Wir wurden in Zweierpärchen eingeteilt und uns wurde ein_e Teilnehmer_in aus der Diskussion zugeteilt. Danach hatten wir eine halbe Stunde die jeweiligen Kernthesen bezüglich transnationaler Geschichte herauszuarbeiten. Schließlich stellten wir unsere kurzen Ausarbeitung in ca. 5 Minuten vor, wobei die soziale Ordnung hier interessante Effekte zeitigte: Vorgestellt wurde nämlich nicht zum Plenum hin, sondern zur Lehrperson, die ihrerseits die jeweiligen Beiträge abschließend kommentierte, was eigentlich immer darauf hinauslief, dass sie “ja, aber…” antwortete. Dies wiederum sicherte ihr die Autorität im Raum, weil auf diese Weise das letzte Wort immer zu Gunsten der Lehrperson ging. Ich versuchte die Sache ein wenig aufzulockern/zu testen, in dem ich die Interpretation der gemachten Punkte im Hinblick auf ihre sozial ordnende Bedeutung innerhalb der Community der Transnationalen Historiker_innen zu betonen versuchte[^2], denn das musste notwendig auch die Lehrperson, die ja Teil dieser Community war, herausfordern. Dies funktionierte nicht so recht. Die Argumente wurden im Prinzip auch wieder durch “ja, aber”-Sagen abgewiesen. Interessant war aber, dass die Diskussion, die ich mit meinem_r Partner_in hatte, bevor wir die Sache vorstellten, mitgehört und für die “kanonische Bedeutungskonstruktion”, wie ich das hier mal provisorisch nennen will, verwendet wurde.

Das Ergebnis dieses Vorgangs war im wesentlichen eine sehr effektive, sehr hermeneutische (jedenfalls von der Gestik her) Herangehensweise, die im Vergleich zu den von mir gewohnten Berliner Verhältnissen wesentlich weniger offen und wesentlich weniger anspruchsvoll war. Die Spielregeln der Diskussion hatten zur Folge, dass alle etwas sagen mussten und das war dank der Übersichtlichkeit der Aufgabe auch möglich.

Ich geb’s zu: Wenn das die Art und Weise ist, wie sich der Kurs hier darstellen wird, dann werde ich mich vermutlich eher langweilen. Gut und herausfordernd hingegen ist das Lesepensum. Dadurch, dass wir wöchentlich sechs Stunden lang gemeinsam verbringen werden, kann man eine Menge Stoff durchnehmen, was wiederum bedeutet, dass eine Menge Stoff vorbereitet werden muss.

  • Folgendes Lesematerial wird für Feldneulinge empfohlen:
    • Anthony Best et al.: International History of the Twentieth Century, Routledge (2004), pp. 1- 184.
  • Folgende Bücher sind soweit ich das sehen kann Pflichtlektüre
    • Akira Iriye: Global and Transnational History. Past, Present, Future, Palgrave Pivot 2012
    • Robert R. Jackson and Georg Sørensen: Introduction to International Relations. Theories and Approaches, Oxford University Press, 5th edition 2012
  • Diese Texte sind außerdem zum jeweiligen Datum zu lesen
    • Patrick Finney: “Introduction: What is international history?” in Patrick Finney (ed.): Palgrave Advances in International History, Palgrave Macmillan, 2005 pp. 1-35
    • Sally Marks: The Illusion of Peace. International Relations in Europe, 1918-1933, Macmillan Press 1976 (book available from ‘semester shelf’ in the Nobel library); Please focus your reading on chapters 1, 2 and 6 (pp. 1-54, 137-46).
    • Zara Steiner: The Lights that Failed. European International History 1919-1933, Oxford University Press, 2005, pp. v-x (preface) and 1-11 (prologue)
    • Susan Pedersen: “Back to the League of Nations”, American Historical Review vol. 112, no. 4, 2007, pp.1091- 1117
    • Patricia Clavin: Securing the World Economy. The Reinvention of the League of Nations, 1920-1946, Oxford University Press, 2013, pp. 1-10, 341-51
    • Pierre-Yves Saunier: ‘Transnational’, entry in: Pierre-Yves Saunier and Akira Iriye (eds.): The Palgrave Dictionary of Transnational History. From the mid-19th Century to the Present Day, Palgrave Macmillan, 2009, pp. 1047-1055
    • Kiran K. Patel: “”Transnations” among “Transnations”. The Debate on Transnational History in the United States and Germany”, Harvard University Center for European Studies Working Paper Series 159/2008
    • Ann-Christina L. Knudsen and Karen Gram-Skjoldager: “Historiography and Narration in Transnational History”, Journal of Global History, vol. 9, no.1, 2014, pp. 143-61
    • Ann Christina L.-Knudsen and Karen Gram-Skjoldager: “An Introduction” in Living Political Biography. Narrating 20th Century European Lives, Aarhus University Press (2012), pp. 13-30
    • Bruce Mazlish: “An Introduction to Global History”, in Bruce Mazlish and Ralph Buultjens (eds.): Conceptualising Global History, Boulder: Westview Press, 1993, pp. 1-24
    • Kenneth Pomeranz “Review by Kenneth Pomeranz” in The International History Review, Vol. 28, No. 1 (March 2006), pp. 167-170.
    • Patrick O’Brien “Historiographical traditions and modern imperatives for the restoration of Global history” in Journal of Global History, 1 (2006), pp 3-39.
    • earlyamericanists.com
    • imperialglobalexeter.com
    • imperialandglobal.exeter.ac.uk of-global-history-courses/
    • Erez Manela. “Dawn of a New Era: The “Wilsonian Moment” in Colonial Contexts and the Transformation of World Order, 1917-1920”, in: Sebastian Conrad and Dominic Sachsenmaier (eds.): Competing Visions of World Order, Palgrave Macmillan, 2007
    • Andrew Arsan, Su Lin Lewis and Anne-Isabelle Richard: ”Editorial – the roots of global civil society and the interwar moment”, Journal of Global History, vol. 7, no.2, 2012, pp. 157-165
    • John Lewis Gaddis: “History, Theory and Common Ground”, International Security, Vol. 22, No. 1, Summer 1997, pp.75-85
    • Robert Jackson and Georg Sørensen: Introduction to International Relations: Theories and Approaches, Oxford University Press, (4th edition, 2010/5th edition 2012), pp. 28-180 in the 2010 edition/pp.32-178 in the 2012 edition (focus on chapters on realism, liberalism and post-positivist approaches (chapter numbers differ between the two editions))

Die Bewertung des Kurses funktioniert dabei nach dem Prinzip der Beantwortung eines Examensfrage im Umfang von 15 Seiten. Die Antwort muss innerhalb von sieben Tagen eingereichte werden.

Einen weiterer Kurs im gleichen Umfang, bei der gleichen Lehrperson, werde ich ab Oktober besuchen. Es wird ein stressiges Semester, wenn man bedenkt, wie schwierig derzeit noch die Einrichtung und Durchhaltung von Routinen ist.

Mir gefällt das alles nicht wirklich. Hinzu kommt das schlechte Gewissen, dass ich wenigstens noch die BenjaminLatour-Arbeit schreiben und auch eine mündliche Prüfung am Ende Semesters in Berlin machen muss. Mal ganz davon abgesehen, dass mich es gerade mal wieder zerreißt.


Gestern hatte ich Geburtstag und habe mit einer guten, guten Freundin - wenigstens das lässt sich jetzt schon behaupten - dem historischen Start des ersten dänischen Astronauten Andreas per Livestream im Søauditorierne beigewohnt. Medien waren da und eine Menge Leute. Früh musste ich aufstehen: 03:30 Uhr hatte der Wecker geklingelt. Meine Unfähigkeit Dänisch zu verstehen führt dazu, dass ich mich allein auf die Bilder konzentrieren konnte. Immerhin war der Livestream, die 15 Minuten, die ausschließlich dieser gezeigt wurde, in Englisch. Was mir dabei mal wieder klar wurde:

Wie ungemein seltsam mein Feld (STS oder Science Studies oder was immer ich auch mache…) eigentlich ist. Wie ist es möglich, dass ich mich intelligent zu wissenschaftlichen Entwicklungen äußern kann, obwohl ich selbst kein Astronom bin? Und was bedeutet meine Beschäftigung eigentlich? Warum sollte sich irgendjemand dafür interessieren? Möglicherweise findet man ein Interesse lediglich vor, aber wer weiß? Es erstaunte und erschreckte mich gleichermaßen, wie diese spezielle Situation das Projekt einer Anthropologie der Moderne, zwar nicht in Frage stellte, doch aber mir plötzlich gegenüber der hier gezeigten Wissenschaftskultur bewusst wurde. Soll heißen: Die relationale Beschreibung ist zu unterscheiden vom zu Beschreibenden. Mit Latour fliegt man nicht zur ISS. Aber man versteht besser wie es geht, wenn mir diese hermeneutische Wendung hier erlaubt sei. Ein interessantes Paradox. Die ganze Veranstaltung erinnerte mich daran, wie sehr ich mir die Realität der jeweiligen wissenschaftlichen Welt immer wieder vor Augen halten muss.

Folgendes schrieb ich an meine Großeltern:

”Liebe Hähnels: Ein kleiner Schritt für mich, ein großer Schritt für die dänische Menschheit. Ich bin - an meinem Geburtstag! Und das als Eule! - 03:30 Uhr aufgestanden um einem wissenschaftshistorischen Moment beizuwohnen. Heute wurde nämlich nicht nur ich ein Jahr älter, sondern außerdem der erste Mensch dänischer Nationalität mit einer Rakete vom Typ Soyuz TMA-18M vom kasachischen Baikonur Kosmodrom, dem größten Raketenstartplatz der Welt, um 04:37 und 43 Sekunden Ortszeit (06:37 Aarhuser Zeit) gemeinsam mit einem kasachischen und einem russischen Kosmonauten in den Weltraum geschossen. Andreas Mogensen wird zwei Tage in der Kapsel auf Kontakt mit der Raumstation warten und anschließend auf der ISS 8 Tage verschiedene Experimente durchführen, bevor es wieder zurück geht. Ich war mit einer Freundin also wie gesagt in aller Herrgottsfrühe im Søauditorierne der Aarhuser Universität um einer Liveübertragung des Ereignisses beizuwohnen. Es war toll. Ich habe bei den vielen Kleinsvorträgen zwar nur Smørrebrød verstanden, aber die Bilder sprachen für sich (und zumindest der unmittelbare Start wurde auf Englisch kommentiert). Ein tolles Erlebnis, dass vielerlei Gedanken und Gefühle in mir auslöste, die ich erstmal setzen lassen muss, bevor ich sehen kann, was dort aufgewirbelt wurde. Ich hoffe es geht euch gut. Mir geht’s sehr. Liebe Grüße, ich denke an euch Martin”

Abends dann buken wir, d.h. neu gemachte Freunde von mir, die erstaunlich gut zusammenpassten (Schicksalsgemeinschaft; aber darüber hinaus wurde hauptsächlich herzlich gelacht und sich wirklich aufeinander eingelassen) und ich Pizza gemeinsam und das war sehr schön. Es ging länger als erwartet, was immer ein guter Indikator ist. Mit meinen 29 Jahren bin ich allerdings mit ziemlichem Abstand der Älteste. Nicht nur in dieser Gruppe, sondern insgesamt unter den internationalen Austauschstudis. Mich stört das nur, wenn ich daran denke, dass all das Positive hier auch schon früher hätte geschehen können, wenn ich nicht drei Jahre in Bremen herumgepimmelt hätte. Aber das sucht man sich ja nicht wirklich aus.


Sorgen bereitet mir so einiges:

  1. Ich genieße die Zeit hier sehr
  2. Mein schlechtes Gewissen ist groß
  3. Das liegt daran, dass es finanziell kurz und mittelfristig eher düster aussieht und eine Chance auf Besserung einzig darin besteht den Master in 2016 abzuschließen
  4. Ich fühle mich intellektuell unter- und bezüglich dem Folgen von Autorität überfordert
  5. Was ich meine: Ich will diese andere Lehrkultur ernst nehmen und verstehen lernen, aber es bereitet mir doch einige Schmerzen
  6. Ich spüre meine “Senioritis” stark
  7. Ich spüre und sehe mein Alter
  8. Ich kann meinen eigenen Ansprüchen unter dem hier herrschenden Regime nicht gerecht werden

Und all die schlechten Sachen wiegen die guten nicht auf, umgedreht aber leider auch nicht. Und so schwebe ich irgendwo dazwischen. Ich bin also hauptsächlich glücklich, bzw. kann mich so schätzen. Es bleibt aber ein Glück “with strings attached”.[^3]

[^1]: C. A. Bayly u. a., AHR Conversation: On Transnational History, in: The American Historical Review, 111/5, 2006, 1441–1464.

[^2]: Steven Shapin, Simon Schaffer, Leviathan and the air-pump: Hobbes, Boyle, and the experimental life, Princeton, N.J (Princeton University Press) 2011, S.: xlix - “Leviathan and the Air-Pump was an attempt to see the problem of knowledge and the problem of order as the same problem. Wherever and whenever groups of people come to agree about what knowledge is, they have practically and provisionally solved the problem of how to array and order themselves.”

[^3]: Hier ganz ausgeklammert die schreckliche und unhaltbare Flüchtlingssituation in Europa und Deutschland. Der gewaltsame Rechtsruck in meinem Heimatland. Wie ich im ersten Aarhus-Eintrag schon sagte: “Im Hinblick auf die nächtliche und sehrfrühmorgendliche Fahrt hier her, mit ICE, Regional Express, Regional Bahn, Bus und einem dänischen, sehr angenehmen LYN (was wohl für “Blitzschlag” steht) bekam ich den etwas pelzigen Geschmack nicht ganz vor der Zunge, dass es sich hier um ein exklusives und (zu?) gut verteidigtes Fleckchen der Festung Europa handelt: POC wurden von uns übrigen Reisenden getrennt. Es wurden Pässe verlangt. Mein Eindruck war: Nicht alle durften weiterreisen. Es waren Familien mit Kindern darunter! Ich selbst stand dem so machtlos gegenüber, wie ein Stück Vieh, dass seinen nächsten LKW auf dem Weg zur Wurstfabrik (= Stufe auf der Karriereleiter = Auslandssemester = Qualifikation für späteres Arbeiten im wissenschaftlichen Beruf) erreichen muss und daher all diese schemenhaften Eindrücke überhaupt nicht empirisch fixieren kann. Ich fühlte mich in dieser gespenstisch uneindeutigen Mélange aus komplizierten Gefühlen und unklaren Impressionen an Children of Men erinnert.”

2015-08-30-Abend

Wenig ist passiert im Reich der theoretischen Praxis. Ich schreibe und lese die letzten Tage wenig. Wobei dieser Satz genau genommen schon falsch ist. Er impliziert nämlich eine Routine oder Gleichförmigkeit der Tage hier in Aarhus, die nicht besteht. Letzte Woche waren die sogenannten Intro Days und ich musste mich darum kümmern, dass ich am CSS überhaupt Kurse besuchen kann, was schließlich dazu führte, dass mein Semester nun folgendermaßen aussieht:

Dass ich im übrigen “mein Semester” gerade eben sagte, liegt daran, dass ich aus Sicht der Uni Aarhus mich nur auf ein Semester beworben habe, aus Sicht von Erasmus aber für zwei. Ich muss nun also etwas Bürokratie für das zweite Semester nachholen. Und. So. Weiter.

In Kaskaden bürokratischer und lebensweltlicher Kleinigkeiten, die aufkommen, wenn man, wenn auch auf Zeit, ein Leben an einem fremden Ort anfängt, geht jeder Ansatz eines Lebens, dass genügend Zeit und Muse fürs Arbeiten im Weinberg des Textes, an der theoretischen Praxis am Versuchsaufbau des eigenen Lebens, an der eigenen Sphäre im Gegurgel und Geschäume universitärer und zwischenmenschlicher Verpflichtungen unter.

  • “Mache ich zu viel Theorie? Nein, es ist die praktische Welt, die falsch ist!” (q)
  • “Jedenfalls: Es fehlen in dieser unwirklichen Auslandsstudiumswelt zuweilen explorative Gespräche über Theorie.” (q)
  • “Ja, es fehlt Zeit. Das geht, weil der Aufenthalt hier begrenzt ist, wie die Teilnahme an Aktivitäten begrenzt möglich ist.” (q)
  • “Ich finde es nicht gut, dass ich weder Muse noch Energie habe für gute Arbeit, mag aber die Gründe für diese Unmöglichkeit durchaus.” (q)

Und das ist scheiße. Aber, wie ich auch auf Twitter sagte, sind die Gründe, d.h. die mich überspülenden Ereignisse selbst durchaus schön. All die neuen Leute, die Möglichkeit sich anderen auf eine neue Art und Weise zu erklären, die vielen kleinen und größeren Zwischenmenschlichkeiten, die ich austausche, all das ist vermutlich, wofür man ins Ausland fährt. Die relative Unmöglichkeit sich nicht davontreiben zu lassen, wie ein Stück Holz auf dem Meer.

Ansonsten sind die Erlebnisse hier als Instanzen von etwas anderem betrachtet für mich privat sehr schön und sicher wichtig, aber (noch) nicht berichtenswert. Ich lasse daher all die Worte dazu vorerst auf meiner Zunge liegen und lasse mich von den Oberflächenströmungen dieses Jetzt durch Raum und Zeit tragen.


Metaphernrumspielerei. Das ist mit Susan Sontags Essay[^1], den mir dankenswerterweise @gabrielberlin neulich in die TL spülte eine interessante Problematik geworden. Das und dieser sehr kurze Barthes-Text über Kafka[^2]. In gewisser Weise besteht hier der archäologische Balanceakt darin, diese neue gefeierte und agressiv vorgetragene Oberflächlichkeit (im Gegensatz zur Mimesistheorie der Kunst und der Literatur, d.h. die Produktion von Imitaten der göttlichen Welt der Ideen) von seiner Geste her zu untersuchen. Es ist eine interessante Problematik, denn wehrt sich Sontags Essay gegen den Ikonoklasmus der Interpretation nur um seinerseits ikonokalstisch gegen die Institution der Interpretation vorzugehen. Das bringt mich zu Latour. Auch hier: Prinzipiell antiikonoklatische Haltung gegenüber der kritischen Geste und gleichzeitig dadurch ikonoklatisch gegen eben diese Geste vorgehend. Kann man sich als Historiker_in nicht leisten. Da passt, was ich bezüglich der Affirmativen Grundhaltung sagte:

”Ziel muss immer Affirmation sein! Ja sagen. Zu allem. Aber das vor allem im Modus der Möglichkeit. Die Lebensumstände diktieren regelrecht, dass sich dazu dann aber auch eine nüchterne Bereitschaft des Tragens der sich so zusammenaffirmierten Realität gesellt. Und das ist aus stimulanzökonomischer Perspektive nicht immer sinnvoll. Soll heißen: Das Ja bleibt, wenn man es mit dem Sternchen ausstattet, dass das eigene Leben nicht alles ist oder sein kann oder sein sollte, aber sein könnte!

Und so auch hier. Historiker_innen sind Ja-Sager_innen. Also “Ja!” zur Interpretation und zur Oberflächlichkeit, “Ja!” zur Kritik und zum Kompositionismus![^3] Aber all das im Modus der Möglichkeit. Es bleibt eine Frage der Tools. Man könnte auch sagen: All das sind Legosteine, die Akteure so oder so zusammensetzen können. Und da die Möglichkeit so oder so besteht und gleichzeitig bestimmte Steine bestimmte Eigenschaften haben, ergeben sich begrenzte, wenn auch unüberschaubare, Möglichkeiten. Warum sage ich das alles?

Weil ich versuche ernsthafter über die Möglichkeit des “Nein!” außerhalb trivialer Fälle (lokale Realität sieht anders aus, es artikuliert sich offensichtlich anders) nachzudenken. Dieses “Nein!” muss in dieser Rahmung sehr hart erkämpft werden. Es ist fast immer ein politisches Nein, d.h. es ist ein Nein, dessen Aufgabe das Jenseits der bisher möglichen Beschreibung artikuliert. Es will verändern. Es will andere Zustände herstellen. Es ist damit ein Bestandteil (und gleichzeitiger Akteur) eines Versuchsaufbaus. Die Ablehnung bekannter Gesten ist zutiefst experimentell.

Ich frage mich, wie und ob aus dieser Sicht die Problematik der Geflüchteten in Europa und Deutschland zu lesen wäre.[^4] All die Neins, die wir zu hören bekommen, müssten auf ihre Relationen hin überprpüft werden. Wenn an dieser These etwas dran ist, dann müsste sich die Ablehnungen als Versuchsaufbaue lesen lassen.

[^1]: Susan Sontag, Against Interpretation, Against interpretation, and other essays, New York, N.Y (Picador U.S.A) 2001.

[^2]: Roland Barthes, Kafka’s Answer, Critical essays, Evanston [Ill.] (Northwestern University Press) 1972.

[^3]: Bruno Latour, An Attempt at a „Compositionist Manifesto“, in: New Literary History, 41, 2010, 471–490.

[^4]: Ich unterstütze im übrigen die Aktion #bloggerfuerfluechtlinge für die man hier spenden kann, wenn man finanziell dazu in der Lage ist.

2015-08-19-Mittag

War gerade eben beim Center for Science Studies, um mich mit den Gegebenheiten vertraut zu machen und mir ein paar Infos zu den angebotenen Kursen abzuholen. Was ich organisieren muss: Eine Zusage von den Media Studies (zu denen ich formal aus verschiedenen Erasmuskooperationskompatibilitätsgründen gehöre), dass ich in den Science Studies Kurse belege. Außerdem wurde ich auf das STS Center hingewiesen, dass ebenfalls für mich relevante Kurse anbieten könnte. Relevanz. Ich stellte mich zwei Kolleg_innen des CSS vor. Gar nicht so einfach aus der hohlen Hand. Aber es ging. Ich behauptete, dass ich mich für die ANT interessiere, fast alles von Latour gelesen hätte. Das sei meine Herangehensweise. Ich würde mich für die Geschichte der Humanities und der Theorie interessieren und darüber hinaus für die Geschichte der Botanik. Alles in allem liege mein Schwerpunkt in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Des Weiteren sei ich an neuen und anderen Arten der Geschichtsvermittlung interessiert, wie sie die Digital Humanities versprechen. Es kam ganz gut an. Ist aber auch nicht ungefährlich, weil es nach riesigen Gebieten klingt, mit denen ich mich auseinandersetze. Ich bin außerdem auch gleich zum Kolloquium im CSS eingeladen worden, was mich sehr freut. Dummerweise habe ich es in meiner Aufregung versäumt, meinerseits nach den jeweiligen Schwerpunkten der Kolleg_innen zu fragen.


Die letzten Tage bestanden sonst hauptsächlich aus lesen und schreiben. Ich lernte Karl Mannheim über seinen Text “Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen” kennen[^1] und kann das für meine eigene Arbeit sehr gut verwenden. Im Text arbeitet Mannheim eine Sozialgeschichte (oder jedenfalls ein dynamisches Modell) geistiger Strömungen aus, deren Antrieb in der Konkurrenz von Denkstilen besteht. Dabei befreit er die Konkurrenz aus der Sphäre der Ökonomie, um sie im Bereich der Geisteswissenschaften anwenden zu können. Nach Mannheim gibt es vier Phasen, nach denen sich die Konkurrenz auf die Geistesgeschichte (die “Auslegung des Seins”) auswirken würde:

  1. Konsens - dazu zählt der Fundus der Sprichworte, die für alle in einer Gesellschaft Gültigkeit hätten
  2. Monopolsituation - dazu zählt die Sonderstellung der christlichen Kirche bis zum Beginn der Moderne
  3. Atomisierung - mit dem Voranschreiten der Moderne komme es zu einer Vereinzelung der Positionen, die untereinander um die Vorherrschaft kämpfen, wobei eine absolute Vereinzelung niemals einträte
  4. Konzentration - Die Konkurrenz der vereinzelten Positionen, die einander nur noch am höchsten Maß (der Vernunft) messen lassen, verbünden sich zu Plattformen (i.S.v. politischen Plattformen, hier aber auf “Geistesströmungen” bezogen), ein Prozess der Polarisation setzt also ein, der die Gesamtheit der Positionen auf einige wenige Pole (Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus) eindampft.

Dabei ist wichtig, dass Mannheim für einen ontologischen Pluralismus plädiert, den er unter dem Namen “Relationismus” fasst. Demnach wäre die “öffentliche Auslegung des Seins” - eine Wendung aus Heideggers “Sein und Zeit” - von immanenter Bedeutung für die Entwicklung der Geistesgeschichte. Nämlich würden “nur bestimmten historisch-sozialen Bewußtseinsstrukturen bestimmte qualitative Eigenheiten am historisch lebendigen Objekte sich eröffnen” (S. 42, Hervorhebungen Mannheim). Diese historisch-sozialen Bewusstseinsstrukturen wiederum sind das was Mannheim “Denkstil” nennt.[^2]

Diese Denkstile sind also lokale Phänomene, die sich historisch-sozial verorten lassen müssten und miteinander in Konkurrenz stehen. Die Phasen oder Möglichkeiten, wie sich Konkurrenz auswirkt, finden sich in der Geschichte der Moderne (oder jener Geschichte, die zu ihr führt) wieder:

Die erste Phase - jene der Sprichwörter - wird nicht eindeutig einer historischen Epoche zugeteilt. Diese Phase komme in homogenen Gesellschaften zu Stande und würde sich aber in allen Gesellschaften finden lassen, denn sie stelle das alltägliche Denken da, den “Common Sense”.

Die zweite Phase - jene der monopolistischen Denkstilsituation - wird (als ein Beispiel) durch die mittelalterlich-kirchliche Weltauslegung charakterisiert. Die spezielle Situation, das nur wenige Gelehrte lesen und schreiben konnten, sorgte für ein geistliches Monopol.

Die dritte Phase - jene der Atomisierung - sei nach dem Fall der hegemonialen Weltinterpretationsmacht der Kirche gegeben. Plötzlich nahmen mehr und mehr Kreise aus verschiedenen sozialen Schichten, wobei die Möglichkeit zur Teilnahme am öffentlichen Diskurs von oben nach unten durchsickerte, an der “öffentlichen Auslegung des Seins” teil.

Die vierte Phase schließlich - jene der Polarisierung und Selektion - sei zur Gegenwart Mannheims gegeben. Die Atomisierung der Positionen führte zur Verschärfung von Argumenten, d.h. einer Polarisation, die ihrerseits als eine Schaffung von Plattformen angesehen werden kann. Bald sind Denkstile “liberalistisch”, “konservativistisch” oder “sozialistisch” und werden auf diese Weise verstanden. Das bringt uns schließlich zur Problematik der Überlieferung. Wie man sieht bringt Konkurrenz nicht nur Atomisierung, sondern auch Synthetisierung mit sich (dazu kommen große Syntheseversuche, wie jener von Hegel) und diese gehen in die Geistesgeschichte ein. Diese Synthesen, so sie denn erfolgreich sind, stellen dementsprechend die Selektion in der Geistesgeschichte dar, denn es sind die Motive, die beibehalten werden, die mehr oder weniger stabile Denkstile ausmachen.

Ein sehr schöner, sehr brauchbarer Text, der gerade für mein Projekt einer ANT in den Geisteswissenschaften nutzbar machen, auch wenn dafür ein paar Sachen angepasst werden müssen.[^3] Seine Konzeption des Denkstils, sein Relationalismus, die lokale Realität der einzelnen Denkstile, sein Plattformbegriff, all das und noch viel mehr, scheint mir gutes Material zu sein, um in meinem Projekt einer Erweiterung der Existenzweisen um einen Modus der Geisteswissenschaften ([GWN] auf deutsch, [HUM] auf Englisch) zu arbeiten.


Habe außerdem auch mal probiert, auf einer Google-Karte meine besuchten Orte einzuzeichnen. Ist vermutlich nicht ganz vollständig. Würde gerne auch die Fotos und die jeweiligen Journaleinträge verlinken - und dem steht eigentlich auch nichts entgegegn - wenn man vom Aufwand dafür absieht…

Ich war außerdem am Wochenende bei der VoKü und muss sagen, dass ich nicht nur Spaß hatte, sondern sehr gut aß und sogar noch für den nächsten Tag Essen hatte. Und das alles kostenlos! Wenn ich nicht so zurückhaltend gewesen wäre, wäre wahrscheinlich für vier oder fünf Tage Essen rausgesprungen. Tolle Sache das.

Sonst gibt es nicht sehr viel zu berichten. Ich lese und schreibe halt den ganzen Tag und arbeite mich so durch meine Lektüre. Ich genieße das fast ungestörte Arbeiten sehr und ich habe das Gefühl, dass ich bezüglich dessen gut Weg mache.

P.S.: Fotos liefere ich die Tage mal nach.


[^1]: Der Text wird in Safranskis Heidegger-Biografie erwähnt: Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland: Heidegger und seine Zeit, 7. Aufl Aufl., Frankfurt am Main (Fischer-Taschenbuch-Verl) 2011 (Fischer 15157), Pos. 4325 und hier die vollständige bibliogafische Angabe des o.g. Vortrags: Karl Mannheim, Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen, in: Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hg.), Verhandlungen des 6. Deutschen Soziologentages vom 17. bis 19. September 1928 in Zürich: Vorträge und Diskussionen in der Hauptversammlung und in den Sitzungen der Untergruppen, Tübingen (Mohr Siebeck) 1929, www.ssoar.info.

[^2]: Zur Frage, ob und wenn ja was dieser Denkstil mit dem Denkstil von Ludwik Fleck zu tun hat vielleicht ein anderes Mal mehr.

[^3]: Mannheim spricht etwas vom Sozialen, von Gesellschaften, vom Geist (obwohl es gerade hierzu nach AIME etwas zu sagen gäbe…) und vielen anderen Begrifflichkeiten, die mit einem Akteur-Netzwerk-Zugriff gewissermaßen untransformiert nur schwerlich zusammengehen.

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