Nachdem ich das Wochenende sehr ruhig anging und mich eigentlich kaum aus der Wohnung bewegte (war lediglich noch einmal einkaufen), machte ich heute eine größere Runde durch die Stadt: Zuerst gab ich meinen Mietvertrag beim International Center ab und wohne damit auch offiziell hier. Es ist immer noch seltsam in einem solchen, auf mich sehr teuer wirkenden, modernen Gebäude zu wohnen. Anschließend besuchte ich dann diesmal auch erfolgreich Løve’s Antikvariat und es stellt sich heraus, dass es erstens ein sehr schönes kleines Kellerantiquariat ist, dass zweitens immerhin zwei Regalbretter deutsche Bücher (und anderthalb Regale englische Bücher) im Angebot hat und drittens die deutschen Bücher zum größten Teil aus dem Bereich Avantgarde (z.B. Theorie der Avantgarde), kritische Theorie (z.B. Traditionelle und Kritische Theorie) und Marxismus (viel Brecht, wenn das zählt, etwa seine Gedichte) zu stammen scheinen. Das trifft sich sehr gut, schreibe ich doch gerade über Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz eine Hausarbeit.
Toll war, dass es sich bei dem Antiquariat anscheinend um eine Kellerwohnung zu handeln schien, wie die Küche, die in den Öffnungszeiten ebenfalls Verkaufsraum war, verriet. Zu gerne hätte ich mit der Verkäuferin kurz darüber gesprochen, aber sie war ihrerseits ebenfalls in ein Gespräch mit einer Freundin wie mir schien vertieft und so machte ich mich - fürs Erste auch ohne Buch (denn sie waren nicht ganz billig, um die 100 Dänische Kronen und für den Preis muss wenigstens ein kurzes Gespräch rausspringen…) - auf den Weg.
Nächster Halt war die Statsbiblioteket. Hier ließ ich mir einen temporären Ausweis ausstellen. Temporär deshalb, weil ich noch keine sogenannten CPR-Nummer habe und ohne diese kann man im Prinzip nichts in Dänemark machen. Na ja fast nichts. Temporäre Ausweise für die zentrale Bibliothek in Aarhus kriegt man jedenfalls, wenn man nett fragt. Die Bibliothek erstaunt vor allem wegen ihrer verhältnismäßigen Kleinheit. Der Hauptgrund dafür liegt in der Absenz eines großen Präsenzbestandes zu suchen. Wie mir erklärt wurde, müsste man Bücher bestellen und könnte diese dann am nächsten Tag abholen. Das Fehlen eines Präsenzbestandes, der es ermöglicht thematisch ähnlich einsortierte Literatur durch schlichtes Orten des gesuchten Buchs ähnliche Bücher zu finden, das Fehlen dieser Heuristik, hat vermutlich interessante Folgen. Oder: Was wäre eine Bibliothek von der Query her gedacht? Die Querylogy, oder Theorie der Abfragesysteme von @spro ist m.E. eigentlich die interessanteste Sache, die seine Beschäftigung mit dem Netz zu Tage brachte. Für mich ist die Theorie der Abfragesysteme nicht nur wegen ihrer Theorie interessant, sondern vor allem für ihre These, dass das Zeitalter des Archivs sich seinem Ende zuneigt. Im Hinblick auf die Bibliothek in Aarhus, die einen konkreten Fall dieses Wechsels darzustellen scheint, darf man nicht vergessen, dass eine Behauptung, das Zeitalter des Archivs sei vorbei, keineswegs für alle Akteure stimmen kann. Irgendjemand muss die Bücher anschaffen, die Bücher müssen irgendwie untergebracht werden, der ganze Apparat der Verfügbarhaltung für Abfragen ist nichts weniger als ein Archiv, allerdings in etwas anderer Form. Ich kenne mich zu wenig in der Geschichte von Bibliotheken allgemein und mit der in Aarhus im Speziellen aus, um beurteilen zu können, ob diese “Speichertechnologie” (man könnte wohl auch hier Plattform sagen…) in ihrer Struktur sich verändert hat. Vergleicht man diese moderne Bibliothek jedenfalls mit dem kleinen Antiquariat, dass seine Bücher nach einer anderen Art verfügbar hält, dann können wir leicht einsehen, dass diese Differenzen durchaus zu beschreiben wären. Dass ich überhaupt einsehen und charakterisieren konnte, was das Antiquariat für eine deutsche Bücherauswahl hat, liegt nicht zuletzt an der Art der Verfügbarhaltung. “Von der Query her gedacht” hieße also hier: beide Bücherspeichertechnologien, so unterschiedlich diese Akteur-Netzwerke auch konkret aussehen, mag man sich auch als Abfragen an die Datenbank der Realität vorstellen - und warum auch nicht, ich spreche ja auch ständig vom Relationalismus -, man würde aber wahrscheinlich am Ende zu etwas kommen, was man wohl gut und gerne als “gespeicherte Suche” bezeichnen könnte. Kurz: Eine Auswahlstrategie, d.h. eine Query, die in irgendeine Materialität überführt, oder besser noch: an sie gebunden wird, eine Auswahlstrategie also, die irgendwie stabilisiert wird, stellt in der Sprache der Querylogy eine gespeicherte Suche und damit eine Speichertechnologie dar.
Anschließend machte ich mich auf den Weg zum IKEA. Mit dem Bus. Das ging auch alles. IKEA nahm mir fast die ganze Energie und außerdem eine Menge Geld ab, wobei man realistischerweise sagen muss, dass letzteres - ich kaufte ein paar Aufbewahrungssachen und außerdem eine Decke und ein Kissen, jeweils vom billigsten; alles etwa 350 DKR - in einem anderen Laden weit schlimmer ausgefallen wäre. Aber dafür war ich ja auch bei IKEA. Auf der Hin- und Rückfahrt beschäftigte mich hauptsächlich die Frage, wie man die gleichen Probleme - ein Jahr in einem fremden Land und es fehlt so ziemlich an allen Gegenständen des täglichen Bedarfs und darüber hinaus an intellektuellem und kulturellem Austausch - umgegangen ist. Wäre ich vor hundert Jahren in Aarhus angekommen, was hätte mich erwartet? Natürlich kam ich zu keinem Ergebnis, weil ich die Stadt ja noch überhaupt nicht kenne. Klar ist jedenfalls, dass ich sehr viel abhängiger gewesen wäre und wahrscheinlich im Antiquariat nachgefragt hätte, woher diese interessante Zusammenstellung kritisch-theoretischer Bücher herkam. Ich hätte mich fragen hören können: “Gehört zu dieser Zusammenstellung eine Person? Taucht diese hier öfter auf?” Und dann fiel mir auf, dass ich das ja auch heute machen kann, selbst wenn ich keineswegs so intellektuell ausgehungert bin, wie ich es vielleicht vor hundert Jahren gewesen wäre, dem Internet sei dank.
Nichtsdestotrotz scheint es mir wichtig Kontakte zu knüpfen. Ich schrieb also auch gleich mal an Matthias Heymann vom Center for Science Studies, um mich vorzustellen und verschiedene Dinge bezüglich meines Besuchs von Kursen in den Science Studies abzuklären und bekam prompt Antwort, dass ich doch gern mal vorbeikommen könne. Wird gemacht. Als ich vorhin zur Tür reinkam, traf ich außerdem auf meinen Mitbewohner M., der eine Australische Frohnatur zu sein scheint und dementsprechend angenehm gestaltete sich unser erstes Gespräch. Auch er bleibt ein Jahr. Wir redeten über unsere Bleibe, Australien, Deutschland und das Bildungssystem in den jeweiligen Ländern. Er ist 20! Ich denke, wir werden klar kommen und hoffe gleichzeitig, dass er es mit mir, einem etwas eigenbrödlerischen, aber trotzdem freundlichen Nerd, wird aushalten können.
Morgen: Da die Bibliothek um 8 auf- aber schon um 17 Uhr zumacht, werde ich früh aufstehen und versuchen mir diesen Rhythmus gleich anzugewöhnen. Ohne Bibliotheksarbeit bin ich nämlich nichts. Ich werde mir Das Benjamin-Handbuch weiter zu Gemüte führen und auf die bestellte Tagebuchlektüre warten. Außerdem werde ich versuchen einzuschätzen, ob sich ein Dänisch-Kurs, den man hier kostenlos machen kann, lohnt, bzw. über dieser mir gut ins Konzept passt. Schließlich müssen eine Menge Kurse besucht und eine nicht unerhebliche Anzahl Hausarbeiten geschrieben werden. Vom darüber hinausgehenden Leseinteresse mal ganz abgesehen.
P.S.: Ach und jetzt habe ich gar nichts zu dem gesagt, womit ich mich am Wochenende hauptsächlich beschäftigt habe: Meiner Zettelkastenimplementation in DevonThink nämlich. Nun. Das wird nachgeliefert.
Nach sehr anstrengender Fahrt, die ich mehr oder weniger stoisch über mich ergehen lies, bin ich heute morgen, sogar eine Stunde früher als erwartet, in Aarhus angekommen. Gleich nach Ankunft auf den Weg gemacht zum “International Center” um dort den Schlüssel für mein Zimmer zu bekommen. Funktionierte auch alles. Den Weg zum IC gefunden, ohne dabei aufs Smartphone zurückgreifen zu können. Prägte mir den Weg vom Hauptbahnhoft so in etwa ein und lief. Dabei die Innenstadt schon mal gesehen: Sehr schön, allerdings müsste ich lügen, wenn ich nicht zugäbe, dass mir ein wenig die übermäßige Geschminktheit - alles wirkte auf mich wie aus einer absichtlich übertrieben glatten Hochglanzbroschüre eines Architektenbüros aus einer mittelmäßigen skandinavischen Krimiverfilmung des ZDFs reverse-engineered - auf den Geist ging. Nun. Dazu gibt es sicherlich im Verlauf meines Aufenthalts noch genug hinzuzufügen.
Holte jedenfalls den Schlüssel ab. Campus liegt auf einem Hügel. Und ich will das Jahr hier Fahrrad fahren? Sowieso ist Aarhus viel hügeliger (wie sehr oder wie wenig “hyggelig” Aarhus ist wird noch zu sehen sein…) als erwartet, wobei meine Erwartung eigentlich immer ist, dass selbst kleinste Andeutungen von Hügeln bereits eine Abnormität darstellen, die der Abschätzung von Entfernungen und Transitzeiten Sand im Getriebe sind. Ich wohne nun also im “Grundfos Kollegiet” in der Grete Løchtes Garde 3 (Grete Løchtes scheint eine nicht ganz unwichtige konservative Politikerin gewesen zu sein; was das genau bedeutet, “Konservativ” weiß ich noch nicht, weil ich mich mit dem Parteiensystem hier noch nicht auseinandergesetzt habe…).
Es ist ein moderner Bau am/im/beim Hafen von Aarhus. Aus meinem Fenster kann ich direkt auf das Wasser und eine Strandbar mit ein paar Volleyballplätzen, usw. sehen. Es ist sehr schön. Ganz in der Nähe ist auch der kleine Bootshafen. Nach dem ich ein bisschen Schlaf nachgeholt hatte, ging ich noch mal in die Stadt um ein bisschen Geld zu holen und ein paar grundlegende Sachen (Klopapier, Pfeffer und Salt, etc.) einzukaufen. Ich nahm einen kleinen Umweg in Kauf, weil ich “Løve’s Antikvariat” besuchen wollte (wollte schauen, was deren angeblich vorhandene deutsche bzw. internationale Buchauswahl so kann), doch leider war schon zu.
Auch die “Statsbiblioteket” hatte nicht mehr geöffnet und spart sich im Juli und August überdies die ohnehin kläglichen drei Stunden Samstagsbesuchszeit, was mein erstes Auftauchen dort auf die nächste Woche verschiebt.
Danach war ich einkaufen und lief schließlich bepackt wie ein Esel, dass mir mein Nacken zu explodieren schien, vorbei an Booten und auf den Stegen sitzenden und im Sonnenuntergang mit Freund_innen ihr Aftensmad (= Abendbrot) einnehmenden, angehipsterten Menschen zurück in mein Zimmer.
Im Hinblick auf die nächtliche und sehrfrühmorgendliche Fahrt hier her, mit ICE, Regional Express, Regional Bahn, Bus und einem dänischen, sehr angenehmen LYN (was wohl für “Blitzschlag” steht) bekam ich den etwas pelzigen Geschmack nicht ganz vor der Zunge, dass es sich hier um ein exklusives und (zu?) gut verteidigtes Fleckchen der Festung Europa handelt: POC wurden von uns übrigen Reisenden getrennt. Es wurden Pässe verlangt. Mein Eindruck war: Nicht alle durften weiterreisen. Es waren Familien mit Kindern darunter! Ich selbst stand dem so machtlos gegenüber, wie ein Stück Vieh, dass seinen nächsten LKW auf dem Weg zur Wurstfabrik (= Stufe auf der Karriereleiter = Auslandssemester = Qualifikation für späteres Arbeiten im wissenschaftlichen Beruf) erreichen muss und daher all diese schemenhaften Eindrücke überhaupt nicht empirisch fixieren kann. Ich fühlte mich in dieser gespenstisch uneindeutigen Mélange aus komplizierten Gefühlen und unklaren Impressionen an Children of Men erinnert.
Hinzu kam, dass ich auf dem Hinweg in etwa die ersten 200 Seiten von Svend Åge Madsens Aarhus-Roman “Sieben Generationen Wahnsinn” gelesen hatte, in dem die Leere und Oberflächlichkeit, die der neoliberale Spätkapitalismus und das postmoderne Verzagen in Kombination mit mit dem Gefühl nicht scheitern zu können - Dänemark und speziell Aarhus geht es sehr, sehr gut - zu jenem kalten ironisierenden Lächeln führt, dessen Horizont der in Dänemark geborene Norweger Matias Faldbakken mit seiner “Skandinavischen Misanthropie” ja schon versucht hatte abzustecken. Dass ich außerdem Herman Bangs trostlose Erzählung “Das graue Haus” beendet hatte, half sicherlich nicht den ersten Eindruck der Stadt der lächelnden Gesichter - was für bedrohlich wirkender Name! - in unbeschwerter Art und Weise auf mich wirken zu lassen. Andererseits glaube ich ohnehin nicht an unvoreingenommene Eindrücke - oder: Die Unvoreingenommenheit erfordert ebenso wie die Voreingenommenheit eine gewisse Vorbereitung.
Also sah ich, wenn auch mit wohlwollenden Augen, den nicht zu verheimlichenden Exzess, den diese Stadt in gewisser Weise darstellt und verstehe dies alles aber als Herausforderung und Aufgabe, die einem Grübler wie mir eher Freude bereitet, als dass es mich unglücklich macht.
Wie ich eben so durch die Straßen des Weddings ging, einmal zum Rebel Room und wieder zurück und all das sah, was der Wedding ist und unter dem Eindruck dessen, was ich bei Felsch (siehe auch) lesen konnte, stellte sich mir die Frage danach, ob mir dieser Ort eigentlich noch lag. Sicher, ich gehe nächste Woche für ein Jahr ins Ausland, aber meine Gedanken sind in den letzten Tagen und Wochen hauptsächlich damit beschäftigt, wie es wohl sein wird, wenn ich aus Dänemark zurückkehre. Ergebnis dessen: Ich ziehe raus aus der Mitte der Stadt, irgendwohin, wo es noch Platz gibt, wo die Mieten ausreichend günstig sind. Denn ich brauche die Freiheit der Gestaltung, eine gewisse Leere, die es hier nicht mehr gibt. Ich wohne im Sprengelkiez, am Nordufer. Dem teuersten Kiez in ganz Wedding. Mir ist das gar nicht bewusst gewesen in der letzten Zeit: Ich lebe gedrängt. Das heißt: Eingezwängt. Es ist ein sehr reales Wohnen, was hier geschieht. Aber es ist nicht sonderlich frei. Und damit auch nicht besonders schön. Ich sitze in einem fast vollständig leeren WG-Zimmer und genieße das. Es sieht hier aus wie bei einem Kunstfilm oder einem Theaterstück: Nur die Gegenstände, die unmittelbar mein Leben sind, existieren: Eine Matratze, ein Schreibtisch und ein Stuhl, paar Klamotten, was zum Lesen und was zum Schreiben. Der Rest ist Balast und unnötig. Nimmt mir den Platz und die Luft und den Mut. Oder jedenfalls die Chance darauf. So fühlt es sich an. Es ist ja richtig, dass wir uns mehr und mehr in enorme Akteur-Ensembles verpacken, aber es ist auch richtig, dass all diese Akteure mit uns in Assoziationen stehen und an uns nagen und unsere Aufmerksamkeit wollen. Deswegen ist Leere auch in Zeiten da die Dinge wieder da sind von so großer Bedeutung. Ich bin immer nur mit dem Unmittelbaren konfrontiert. Deswegen ist es angebracht, das Unmittelbare im Hinblick auf seine Aushaltbarkeit zu gestalten. Wobei es nicht darum gehen kann irgendetwas zu negieren. Ziel muss immer Affirmation sein! Ja sagen. Zu allem. Aber das vor allem im Modus der Möglichkeit. Die Lebensumstände diktieren regelrecht, dass sich dazu dann aber auch eine nüchterne Bereitschaft des Tragens der sich so zusammenaffirmierten Realität gesellt. Und das ist aus stimulanzökonomischer Perspektive nicht immer sinnvoll. Soll heißen: Das Ja bleibt, wenn man es mit dem Sternchen ausstattet, dass das eigene Leben nicht alles ist oder sein kann oder sein sollte, aber sein könnte!
So lebe ich jedenfalls besser. Und das ist auch das Ziel: Eine Freiheit zu finden, in der man gestalterisch durchaus ernsthaft und zielstrebig an der Verwirklichung/Realisierung des eigenen Standpunkt arbeitet. Ich glaube, dass das heute aber nicht mehr im Kern der neoliberalen Stadt geschehen kann, sondern am Stadtrand, oder jedenfalls dort, wo die Mieten billig und die Lagen prekär sind. Dort wo “niemand” hinziehen will. Der Abstand zum Hexenkessel des umkämpften Zentrums kann dabei gleich als Analogie dienen: Da auch theoretisch der Standpunkt zwar nicht egal aber relational wird und gleichzeitig die Spatialität allein nicht mehr Auskunft über die Relationalitäten des jeweiligen Akteurs geben kann, solange bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind (Anschluss ans Internet, Anschluss an den ÖPNV, Lebensunterhalt, etc.), ist der Ort auf unserem Planeten gleichzeitig wichtiger und unwichtiger: Auf der einen Seite unwichtiger, weil man an jedem Ort Verwirklichung betreiben kann und auf der anderen Seite wichtiger, weil es eine Frage der Leere und der Freiheit (hier als Absenz von Akteuren) ist, wie die Entfaltung aussieht. In der Innenstadt bin ich mithin ständig Akteuren ausgesetzt, die ich mir nicht ausgesucht habe. Das ist gut, weil es Emergenzeffekte hat. Das ist schlecht, weil ich mir das Akteursensemble nicht aussuchen kann. Am Rand bin ich weniger Akteuren ausgesetzt, ich bin vielmehr in der Lage selber Akteure auszusetzen. Das ist gut, weil ich auf diese Weise mehr Kontrolle habe, was einer Beschneidung von Emergenzeffekten gleichkommt.
Da mit den verschiedenen Netzen, allen voran dem Internet, meine Auswahl- und Filtermöglichkeiten in großem Maße steigen, ergibt sich daraus: Dass erstens diese Differenzen weniger wichtig werden und dass zweitens die Kontrolle in Form von Leere das interessantere Merkmal ist. Diese Überlegung geht mit der an den Darstellungen der Urbanität als Traumerfüllungs- und sowieso einzig erstrebenswerte Lebenssphäre insofern zusammen, als dass sie zu sagen versucht: Ja, das stimmt, Städte sind auch weiterhin Ballungsräume aus guten Gründen (nämlich der Emergenz) ebendiese, aber eine Art urbane Wildnis, die es noch und wieder zu entdecken gilt, stellen die Randbezirke der Stadt dar, die Partizipation bei gleichzeitig größerer Kontrolle ermöglichen.
Das ist jedenfalls die Hoffnung, mit der ich aus Dänemark wiederzukommen hoffe. Und dann ziehe ich also nach Spandau oder sonstwohin, oder nach Brandeburg, jedenfalls irgendwo hin, wo man noch Stadt sagt, aber das Land schon riechen kann. Den Rand eben. Und dann schaut man, was man an dieser Kante - so sie denn eine ist - alles treiben kann.
All diese Überlegungen machen mir jedenfalls klar, wie unheimlich aufwändig es ist Weg zu machen. Da ich ohnehin mein Leben in den letzten zwei Jahren vom restlichen Leben als abgetrennt betrachte - davor war die Zeit, in der ich, spätinfantil und depressiv, überhaupt nichts tat und begriff - ist es trotzdem fast körperlich schmerzend, wie wenig ich immer noch aufbreche. Gemeint damit ist, dass ich all die Energie in den Jahren vor diesem Leben und bis weit in die Gegenwart hinein mit der Erfüllung eines Konformismus verschwendete, für den ich schlicht und ergreifend nicht geschaffen bin. Gleichzeitig bin ich für die Aufopferung im Dienste der Geisteswissenschaften anscheinend wie gemacht. Die glühende Intensität, mit der ich hier ganze Tage ausschließlich lesend und schreibend verbringe geben davon ebenso Zeugnis, wie die Tatsache, dass wenn ich andere Leute treffe, ich an ihnen vor allem die explorativen Gespräche schätze.
Wenn ich nicht so müde wäre und die Zeit nicht so drücken würde, dann könnte ich hier noch so einiges mehr Schreiben. Es gibt so viel noch zu sagen und zu reflektieren und zusammenzubringen. Ich kann es schon gar nicht mehr erwarten in der Leere von Aarhus zu sein!
Das Zeitalter des aufrichtig nett Seins
Im Zeitalter des aufrichtig nett Seins, betreiben wir auch wieder Philologie. Weil wir darauf Bock haben. Wir respektieren einander für unsere sehr verschiedenen Realitäten und den Weg, den wir genommen haben, um zu ihnen zu gelangen. Im Zeitalter des aufrichtig nett Seins ist uns klar, dass das Gesten der Kritik und der Ironie narzisstisch sind. Und uns interessiert aber stets der, die oder das andere. Im Zeitalter des aufrichtig nett Seins wollen wir einander füreinander begeistern, ohne dabei unrealistisch zu sein. Manchmal sehen wir Dinge einfach ein, weil wir wissen, dass es sich bei Diskussionen nicht um gewinnbare Gefechte handelt. Wir lassen einander gewinnen, oder zumindest in dem Wissen, dass wir es gerne täten, erlaubte das unsere Realität. Im Zeitalter des aufrichtig nett Seins machen wir nicht einfach und zweifeln auch nicht die ganze Zeit. Wir haben uns etwas überlegt und wollen etwas versuchen. Ob es uns gelingen wird, weiß man jetzt noch nicht zu sagen, aber das ist in Ordnung. Wir wollen einander unsere Unsicherheit nicht verheimlichen.