2015-07-03-Nachmittag
“Ein Roman, der sich der Analyse unserer Epoche widmen will, kann auf keine ferne Utopie schielen, er kann nur jetzt agieren muss Gegenstände und Milieus und Realitätsbereiche neutral darstellen, die Gegebenheiten (konsumistisch, warenweltlich, populärkulturell) als gegeben hinnehmen, denn das ist die Welt zu Anfang der [sic] zweiten Jahrtausends.”
“Genauso aber, wie man gegenwärtige soziale Milieus zeitgenössisch untersuchen kann, erscheint eine historisch-analytische Methode weiter erfolgversprechend (wie Peter Weiss sie in der “Ästhetik des Widerstands” verwandt hat, ohnehin eine besonders attraktive Referenz für die sozial-realistische Literatur), die zu klären sucht, wie es zum Ist-Zustand der Gesellschaft gekommen ist. Man soll nicht glauben, weil soziale, historische oder politische Erzählungen von allen ‘Sendeplätzen’ verdrängt sind, existierten sie nicht mehr.”
Beides Zitate aus dem SuKuLTuR-Bändchen “Der sozial-realistische Roman”, genauer aus dem Essay “Zur Konstitution des sozial-realistischen Romans”.
Bringt mich darauf, dass ich mir dazu auch noch Gedanken machen wollte. Denn in der Tat halte ich den Roman oder im weitesten Sinne die Literatur am Schnittpunkt von Essay, historischer Arbeit und Prosa für nach wie vor überaus reichhaltig. Aber gleichzeitig ist der nächste natürliche Schritt dieses Zusammenbringen von Ingredienzen auf interaktive Medien zu übertragen. Und sei es nur, um daraus Erkenntnisse für die “links oben nach rechts unten”-Literatur zu gewinnen.[^1] Nimmt man etwa das zurecht gefeierte Gone Home als Beispiel, dann wird deutlich, dass sich auch in mehr oder weniger nicht-linearen Spielen sozial-realistisch arbeiten lässt (auch wenn der Aufwand, wenn man es ernst meint, schnell ins unermessliche steigt).
Ich glaube auch, dass es Möglichkeiten gibt, diese Art des Erzählens, ob nun auf alte oder neue Art zu verwirklichen (sowieso handelt es sich bei linear/nicht-linear wenn überhaupt um eine Skala). Ob sie jemand hören will, lesen will, spielen will, erleben will, steht auf einem anderen Blatt. Dem_der Schaffenden gibt eine solche Auseinandersetzung wesentlich mehr als Befindlichkeitsliteratur oder das Bespielen der immer gleichen Genres auf die immer gleiche Weise.
Problematisch an dem Wunsch sich mit solchen Dingen auseinanderzusetzen ist hauptsächlich, dass es ein Leben erfordert, dass heute und in Zukunft immer weniger möglich ist. Denn es kostet Geld und Zeit sich derartig ehrlich mit den Dingen auseinanderzusetzen. Und beides kann man fast nur haben, wenn man sich auf die eine oder andere Art professionalisiert. Alle Aufgaben, die mir im Augenblick offen zu stehen scheinen - als Historiker, als Autor/Essayist - sind politisch und persönlich lohnenswert und finanziell gesehen desaströs, zumal mir selbst unklar ist, was ich eigentlich mit “offen stehen” meine.
Also: Ich kann Stahl nur zustimmen, dass das gemeinsame Feld Historie, Prosa und Essay lohnenswert ist - unter der Einschränkung, dass man unter “lohnenswert” nicht “finanziell lohnenswert” versteht.
Wichtig für meinen Zusammenhang ist aber weiters, dass eine Beschäftigung in diesem Feld nicht zwangsläufig Ausdruck in linearen Textprodukten finden muss (auch, wenn ich hier zugeben sollte, dass ich trotzdem ein Freund eines starken Hauptnarrativs bin).
Und als letzten Punkt, den ich hier noch unten drantackern will, sei angemerkt, dass die Beschäftigung nicht beim “Sozialen”, wie ihn die klassische Soziologie definiert, halt machen kann. Hier kommt Latour für mich zum Tragen, der u.A. die Wissenschaften und die Techniken wieder im Zusammenhang einer Gesellschaft mitdenkt (sein Buch “Aramis”, mit seinen vielen ineinander verwobenen Erzählebenen, wäre ein gutes Beispiel für das was Stahl sagt und wie ich es transformieren würde, wobei ich zusätzlich auf Seiten Latours mehr Mitgefühl für Zustände des Scheiterns einfordern müsste, andererseits erfüllt sein Hörstück Kosmokoloss diese Anforderung schon sehr viel mehr). Und auch Weiss’ Ästhetik des Widerstands ist dann am besten, wenn es die Kunst auf diese unnachahmliche Weise nicht nur reflektiert, sondern überhaupt erst sichtbar, fühlbar macht und damit Bemühungen und Widerstände des Untergrunds im 2. Weltkrieg in den historischen Horizont einer Kulturgeschichte des Aufbegehrens der Beherrschten gegen die Herrschenden stellt.
[^1]: Überhaupt nicht zustimmen kann ich der Einstellung, dass Literatur nicht experimentell sein könne, weil sie keine reproduzierbaren Ergebnisse liefere. Diese Darstellung bezieht sich auf eine überholte (weil unrealistische) Philosophie des Experiments. Spätestens mit Ludwik Fleck ist deutlich geworden, dass es beim Experimentieren sehr selten um das Popper’sche experimentum crucis geht. Und explorativ experimentieren kann die Literatur sehr wohl.
2015-07-03-Nacht
Die Frage ist, warum ich an der ANT rumbaue. Ist sie unvollständig? Naja. Der Punkt ist eher, dass es nicht schadet speziellere Werkzeuge zu haben, mit denen man verschiedene Phänomene der eigenen Umwelt sozusagen instantan erklären kann.
Das Tendenziöse dient der allzu offensichtlichen Problematik, dass Akteure sich nicht nur artikulieren, sondern dabei immer eine Tendenz, ein Subtext mitschwingt. Akteure können sich nicht x-beliebig verhalten, nicht x-Beliebiges aushalten. Deshalb kommt es zu Konflikten. Und all das wird nicht allein durch die Art des Existierens, durch die Existenzweise, bestimmt (bzw. schon, aber es ist damit schlecht artikuliert).
Toxizität ist ein Grad für die Fremdheit des Akteurs in Akteur-Netzwerken. Zwar sind Akteure prinzipiell sehr verschieden zueinander und Akteur-Netzwerke sehr heterogen, dennoch ist es so, dass sie ein Netzwerk ergeben, dass irgendwas herstellt oder herstellen will. Netzwerke verhalten sich nach bestimmten Existenzweisen. Toxische Akteure stören den Herstellungsprozess und müssen neutralisiert werden, in dem man ein Antidot schafft, d.h. einen Akteur, der den toxischen Akteur reproduzierbar ausschalten kann. Prinzipiell ist jeder Akteur in der Lage toxisch zu sein, denn es kommt auf das Netzwerk an. Und da ein Antidot auch Gegengift genannt wird ist damit sogleich klar, dass es um eine relative Zuschreibung geht.
P.S.: Und nicht nur instantan! In der Tat sind das ja Tools, die sich aus meiner Erfahrung ergeben haben. Das Tendenziöse war nach genug Latour-Lektüre und im Nachdenken über die Demokratieproblematik irgendwann sehr offensichtlich und das toxische ist ein Werkzeug um mit der ANT Phänomenen des Internet' nachgehen zu können (wo es zu Schließungen von Diskussionen nur sehr selten kommt und trotzdem ständig was passiert).
2015-06-30-Abend
Noch so ein “ein weiteres Problem ist ja auch…”-Text. Ich sprach heute auf dem Flur vor dem Büro meines Profs für Wissenschaftsgeschichte mit einem Mathematiker, der sich für die Geschichte der Mathematik interessiert und daher im Laufe der Semester ein Gast in Seminaren war. Er erzählte mir, dass er schon bald seinen Master abschlösse und er dafür nun schon bald mit der Masterarbeit begänne. Und ich erzählte ihm vom anstehenden Auslandssemester und davon, dass ich vorhätte statt einer Masterarbeit ein “Masterprojekt” im Bereich der Digital Humanities anzugehen, wenn ich dazu die Möglichkeit erhielte und es sähe gar nicht mal so schlecht dafür aus. Er fand das befremdlich. Sei doch irgendein Stapel Papier etwas ganz anderes als irgendeine Webseite. Wenn man in 20 Jahren sagen könnte: “Schau hier, das ist meine Masterarbeit” und dann auf 80 oder 90 bedruckte Blätter verweisen könne… das hätte doch etwas. Mehr. Irgendwie. Wie genau sei natürlich schwierig zu sagen.
Ich hielt natürlich dagegen. Aber wie viel emotionaler Widerstand mir da entgegen kam, damit hab ich nicht gerechnet. Wie das überbrücken, das mildern, mindern? Gibt sicher viele, die so denken. Gerade in den Humanities! Ich kann ja schlecht 80 bis 90 Seiten schreiben und dann noch ein Digital-Humanities-Projekt bauen.
Unberuhigend auch die Problematik, dass mich Umtreibendes und wie es mich umtreibt zu ungewöhnlich ist. Bin vielleicht selbst toxischer Akteur. Schrieb das bei Twitter:
(Kontext: Tweets von @kathrinpassig über Andreas Belwe von der Veranstaltung mit dem Hashtag “#BildungDigital”(, die ich irgendwie nicht weiter kontextualisieren kann))
- “Den Tweets nach zu urteilen, ist der Belwe das, was ich als einen “toxischen Akteur” bezeichnen würde. #BildungDigital” (q)
- “= ein Akteur, der durch seine Assoziation mit anderen Akteuren zu einer Vergiftung des Netzwerks beiträgt und “neutralisiert” werden muss.” (q)
- “Und für diese Neutralisation braucht es ein Antidot (in diesem Falle ein rhetorisches), was erstmal hergestellt werden muss.” (q)
- “Anschließend kann der toxische Akteur so toxisch sein, wie er_sie_es will: Die Vergiftung kann reproduzierbar gestoppt werden.” (q)
- “Weitere Beispiele für toxische Akteure: Evgeny Morozov, Richard Dawkins. Neutralisation muss von jedem Ensemble erneut hergestellt werden.” (q)
- “(Siehe dazu auch, die etwas anders gelagerte Darstellung von @kusanowsky und seinen Experten: t.co)” (q)
- “(Unterschiede: Ich spreche von Akteuren (menschlichen, nichtmenschlichen), jeder Akteur kann toxisch sein)” (q)
Vielleicht bin ich zu sehr Fremdkörper im System? Und muss neutralisiert werden? Oder wirken meine Irritationen produktiv auf den Versuchsaufbau unseres Instituts und die Institution der Humanities ein? Muss man sich ja fragen. Immer mal wieder und ständig. Dass ich vergift steht außer Frage. Infrage steht, ob ich von anderen ausgehalten werden kann.