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2015-06-22-Nachmittag

Wie immer spannendes Gespräch mit L. (und M.) dabei die aufgeworfene Frage: Was halte ich für problematisch an Latour, was sehe ich anders?

Antwort meinerseits: Die Affirmation der ANT, von Latours Denken muss man als studentische Perspektive sehen. Ich bin Student und teste die ANT und Co. (die Existenzweisen machen des Sprechen darüber nicht einfacher…) aus. Wo taugt sie vielleicht nicht mehr? Usw. Ich stelle mir vor, dass man die Grundbewegung Latours, d.h. die Reformulierung der Moderne, im Sinne einer Anthropologie des Westens zur Schaffung der Möglichkeit von Diplomatie zwischen “uns” und anderen Kollektiven insofern weitergeführt werden kann, dass man diese Reformulierung auch für die Demokratie durchführt. Das führt uns zur Anarchie. Latour nämlich spricht immer noch davon, dass wir Agora sind, dass wir Demokratie brauchen, eine Gesellschaft herstellen sollten. So wäre Frieden zu denken. Es wäre mindestens interessant diese Reformulierung durch De- und Rekonstruktion von Wissensformationen auch auf die Demokratie selbst anzuwenden. Denn Latours Projekt scheint mir eigentlich den Weg in Richtung Anarchismus zu zeigen und die Demokratie sein Wunsch zu sein. Oder anders: Das was bei Latour noch Demokratie ist und Diplomatie erfordert, wäre vielleicht durch Auflösung ins anarchische hin noch einmal anders zu beschreiben. Meiner Meinung nach passt dieser Gedanke sehr gut mit den ANT-Untersuchugnen Latours selbst zusammen: Alle Realitäten, alle Dinge, sind temporär, lokal und relational. Sie werden von anderen ebenso temporären, lokalen und relationalen Realitäten (Akteuren) im überraschenden Wechselspiel hergestellt. Diese notwendige Zusammenarbeit von Akteuren passiert aber nie im Hinblick auf eine Gesellschaft (in der Praxis). Und ich denke, dass man ohne Probleme sagen könnte: auch nicht im Hinblick auf eine Demokratie, ein Parlament. Auch Demokratien (wie alles andere) sind selbst hergestellt und notwendig gewesen um Realitäten zu produzieren, sie sind aber nicht selbst gut geeignet um zu beschreiben wie temporär, lokal und relational Realität hergestellt wird (außer im Falle der Demokratie selbst).

Bezieht man den ganzen Planeten mit ein, der nebenbei in ebenso anarchischer Weise erschaffen wird, ergibt sich das Problem der Modernen, nämlich die Kriegsgefahr im Angesichte Gaias (oder des Anthroprozäns) wenn wir zu keiner Diplomatie kommen, zwischen Gesellschaften (die wir, wie gesagt immer erst durch Herstellung schaffen).

Möglicherweise würde, wenn man statt der Demokratie die Anarachie in diese Gleichung einsetzte, deutlicher werden, dass die Gefahr des Krieges selbst im Staat, in der Gesellschaft, im Kollektiv, wie es bei Latour heißt, zu suchen wäre. Würde man sich die Welt als prinzipiell anarchisch (anstatt demokratisch) vorstellen, dann wäre, so meine Vermutung, einer genaueren Beschreibungstätigkeit ein guter Dienst erwiesen. Die Griechen, als Erfinder_innen der Demokratie, würden dann neben andere Orte der Welt, an dem Kollektive hergestellt werden, rücken, was der Anthropologie des Westens nur entgegen kommt.

Kurz: Setzt man Anarachie (hier etwas provisorisch im Sinne einer Nicht-Demokratie und einer Nicht-Gesellschaft) als daraufhin zu beschreibende Kategorie ins Projekt Latours ein, dann würde damit Latours Projekt (Herstellung von Diplomatie zur Vermeidung von Krieg zwischen den Kollektiven aber auch innerhalb dieser) nutzbar gemacht werden und gleichzeitig wäre die Beschreibungsgenauigkeit erhöht, weil sich in den wenigsten Fällen irgendetwas gesellschaftlich oder demokratisch verhält. Realitäten existieren nur lokal, temporär und relational. “Tokens” zirkulieren zwar innerhalb von Netzwerken, aber ihre Reichweite ist sehr begrenzt.

Was das Vorhandensein von großen Netzwerken (Geld, SI-Einheiten, usw.) betrifft: So sind diese selbst nicht demokratisch ausgehandelt. Vielmehr handelt es sich um Institutionen, die sich als Ordnungen verdinglicht haben. Die Realität (großer) Netzwerke ist besser über Tendenzen von Material und Medien (allgemeiner: von Akteuren) zu erklären, als über Übereinstimmung (auch wenn diese ebenfalls ein Faktor ist). Dieser letzte Punkt noch mal anders: Latour würde große Netzwerke gerne als parlamentarische Ergebnisse betrachten - als im Kollektiv, d.h. in der Agora von menschlichen wie nichtmenschlichen Akteuren, ausgehandelt - während es meiner Meinung nach mindestens ebenso schlüssig ist, das Aufkommen größerer Netzwerke mit der Tendenz bestimmter Akteure zu einem bestimmten Verhalten hin zu erklären. Diese Tendenzen würde Latour nun wieder als Äußerungen, als Artikulationen auffassen und das sind sie natürlich, aber der Aushandlungsprozess läuft nicht so intentional ab. D.h. besser wäre hier von Zuckungen, Regungen, ja vom “Unterbewussten” in einem gewissen Sinn zumindest, zu sprechen.

Auf diesem Wege wird es möglich von Akteuren zu sprechen, die etwas artikulieren ohne sich dessen selbst “bewusst” (das ist noch etwas schräg, aber man muss sich das im Sinne der ANT auch für nichtmenschliche Akteure vorstellen…) sein zu müssen. Und in Bezug auf die politische Arena wird dann klar, dass das Problem nicht nur eines der guten Intentionen und der guten diplomatischen Rhetorik ist - wir müssen allen Existenzweisen gerecht werden, wenn wir es miteinander in einem Kollektiv aushalten wollen-, sondern darüber hinaus diese Tendenzen - wir wollen etwas sagen, etwas sein, etwas machen - und das vielleicht alles auch noch gut, fair oder sonst wie (das sind die Bedingungen der Existenzweisen) - können es aber vielleicht gar nicht, oder nur auf diese “defektiöse” Weise, die durch unsere Existenz selbst gegeben ist (wobei die Existenz durch eine Weise gegeben ist; man sieht: es wird schnell komplex). Krieg um diesen Planeten wäre dann zu verhindern, wenn wir in der Lage wären, unsere Defekte, unsere Begrenzungen mit zu beschreiben. Diese dürfen nicht verloren gehen!

Aushaltbar ist das alles aber nur, wenn wir kein Parlament haben, keine Demokratie, die diese nicht zu vereinbarenden Tendenzen vereinheitlichen soll. Wenn wir sehen könnten, dass das auch nicht, oder nur in den seltensten Fällen, nötig ist, weil wir meistens nur ganz lokale, ganz temporäre Realitäten brauchen. Die Klimafrage, in der sich für Latour Gaia ankündigt ist ein gutes Beispiel für die defektiöse Struktur der Welt: Die Lösung wird als Herstellung von Realität in einem demokratischen Prozess gesucht. Dafür tritt Latour ein. Obwohl deutlich zu sehen ist, dass sich um die Person Latour eine ausnehmend winzige Gruppe von Leuten versammelt, die eine "große Realität" niemals herstellen können wird. Aber das ist auch gar nicht nötig. Die Frage, wie mit Gaia umgegangen wird, wird über diese kleinen Gruppen entschieden werden (es sind natürlich Wissenschaftler_innen und Politiker_innen, aber daneben ganz viele ökologische Gruppen, Aktivist_innen und Industrielle, du und ich, usw. usf.; wir alle stellen die Zukunft unseres Planeten lokal her). Wenn diese sich so festigen, dass diese lokalen Realitäten genug Einfluss haben (also zirkulieren), um andere Gruppen zu transformieren, oder überhaupt erst zu schaffen, dann wird man Gaia gegenübertreten können. Und es wird nicht unifiziert geschehen. Genausowenig wie sich Gaia uns als eine Einheit präsentiert, die wir selbst sind, die wir selbst herstellen, sind wir damit eine Einheit. Der Wunsch danach und die darin liegende Problematik, die ich hier - ich bin mir sicher, noch sehr naiv - skizzieren wollte, deutet es schon an: Wir sind nicht nur nie modern, sondern auch nie demokratisch gewesen.

2015-05-29-Vormittag

Gibt es so etwas wie Alien-Anthropologie?

Hatte gerade eine Idee: Was wäre, wenn wir vom Inhalt der Kommunikation vollständig absehen würden? Angenommen, wir hätten es nicht mit einer irdischen Kultur zu tun, sondern mit einem Alienkollektiv: Könnten wir trotzdem etwas über die Funktionsweise des Kollektivs herausfinden? Die Antwort ist mit ziemlicher Sicherheit: Ja. Es wäre eine interessante Sichtweise. Wenn wir vollständig[^1] vom Inhalt abstrahieren, dann müssen wir sehr genau hinschauen, wer mit wem wie assoziiert wird. Wir würden wahrscheinlich feststellen, dass man erstaunlich viel über das Kollektiv sagen kann, auch wenn man nicht weiß, was inhaltlich besprochen wird. Akteure und ihre Verbindungen könnten (bis zu einer bestimmten Grenze) nachgezeichnet werden und dadurch, dass man vom Inhalt nichts versteht, müsste man sehr vorsichtig vorgehen. Schnellschüsse, die Diskurse aufgrund von inhaltlichen Ähnlichkeiten behaupten, wären dann unwahrscheinlicher.

Vielleicht ist diese Einstellung grundsätzlich gut zu heißen. Ich denke, dass Latour das ständig macht. Ein prominentes Beispiel wären seine Gifford-Lectures. Aber vielleicht muss man dieses Verfahren noch viel ernster betreiben. Jedenfalls wäre das eine interessante Ausgangsposition.

Was ich also sagen will: Wäre eine Wissenschaft vorstellbar, die prinzipiell mit ganz fremden und erstmal nur äußerlich zugänglichen Kollektiven umgeht? Wäre diese Wisssenschaft aufs eigene Kollektiv anwendbar? Was wäre das Ergebnis einer solchen Alienanthropologie?

[^1]: Es ist nicht auszuschließen, dass man irgendwann doch einen Sprachzugang findet. Aber der kommt dann in gewisser Weise von außen. Diese Situiertheit wäre dann noch mal zu diskutieren.

2015-05-17-Mittag

Bin ich zu unvorsichtig im Denken? Eines ist jedenfalls klar: Mein begriffliches Vokabular fasst nur unzureichend das, was ich sagen will. Oder wie ich es sagen will. Im Prinzip handelt es sich hierbei um ein leicht erweitertes Vokabular der ANT.

  • Weltbeschreibung - Produkt eines Versuchsaufbaus (, der die Produktion von Weltbeschreibungen zum Ziel hat), verändert die Welt, in dem es sie beschreibt (man denke an Grafiti und StreetArt)
  • Versuchsaufbau - Ensemble von Akteuren, die epistemische Produkte produzieren (verallgemeinerte Variante des Rheinberger'schen Experimentalsystems)
  • EpistemischesProdukt - Nicht determiniertes, aber gleichzeitig auch nicht vollständig realisiertes/verwirklichtes Ding. (siehe EpistemischesDing)
  • Akteur - menschliche und nichtmenschliche Entitäten, diese sind selbst (epistemische) Produkte von Versuchsaufbauen, sie sind figurierte Varianten von Aktanten
  • Aktant - ein nicht-figurierter Akteur, eine Art Kraft, ein Etwas in der Welt, dass in spezifischer Weise lokal wirkt und verschiedenste Formen annehmen kann, man kann auch sagen: eine Handlungsmacht, die noch keine spezifische Form hat
  • Figuration - Aktanten trifft man in der Welt als Akteure an, mit welchen Akteuren man es zu tun hat, entscheidet die Figuration
  • Uebersetzung - Assoziation von zwei Akteuren, keine Kausalverbindung, sondern eine Schaffung von gegenseitiger Abhängigkeit (eben: von Koexistenz)
  • Blackbox - am besten beschreibt es Latour: "An intermediary, in my vocabulary, is what transports meaning or force without transformation: defining its inputs is enough to define its outputs. For all practical purposes, an intermediary can be taken not only as a black box, but also as a black box counting for one, even if it is internally made of many parts."[^1] Dementsprechend ist es eine Frage der Betrachtung und/oder der Wirkung was als Blackbox auftritt. Wichtig ist hier "can be taken", d.h. es tritt als Blackbox auf. Ein Blackbox ist das Produkt von Versuchsaufbauen. Damit ist jeder Akteur in dieser Perspektive auch Blackbox. Man kann sagen, dass man dem Produkt nicht notwendig seine Herstellung ansieht.[^2]
  • Blackboxsatz - In Texten tauchen Blackboxen ständig auf. Wenn man die argumentative und empirische, d.h. rhetorische Arbeit sieht, die in Texten passiert, bevor man zusammenfassende Sätze schreiben kann, dann liegt das auf der Hand. Hier ist das zusammenfassende dieser Sätze das was mit der allgemeineren Blackbox korrespondiert
  • Entscheidungsproblem - Damit ist das spezifische Einschätzungsproblem bezeichnet, dass alle Dinge so mitsichbringen. Nämlich: Das Verständnis von etwas ist von der eigenen Kenntnis der Umgebung dieses Etwas abhängig. Kenne ich mich nur sehr wenig mit einem Sachverhalt aus, kenne ich also den Diskurs drumherum nicht, dann kann ich nicht entscheiden, wie ich eine Aussage über etwas zu nehmen habe. Ich bin orientierungslos und jede Einschätzung ist von meinem Standpunkt aus gleich wahrscheinlich. Dieser Zustand ist im Diskurs aber nicht gegeben.
  • Diskurs - Ein Aussagensystem. Also ein gegliedertes Ganzes von Aussagen. Kann als Akteur-Netzwerk verstanden werden
  • AkteurNetzwerk - Ein Verbund von Akteuren. Es handelt sich nicht um feste Infrastruktur, sondern um ein Netzwerk, dass vollständig in der Bewegung, die es nachzuzeichnen gilt, existiert. Einfach gesagt: Alles was auf dem Wege der Produktion eines epistemischen Produkts durchlaufen wird, gehört einem Akteur-Netzwerk an. Eine andere Bezeichnung für ein Akteur-Netzwerk, die den Schwerpunkt auf die Produktion (und nicht auf die Assoziationskette) legt, ist "Versuchsaufbau".
  • Wissensformation - Eine Struktur von Wissen, die geblackboxt wurde. Ein "kleines" Aussagensystem, dass historischen Veränderungen unterworfen ist.
  • diskursives Element - Eine andere Bezeichnung für Wissensformation, die darauf verweist, dass Wissensformationen in größeren Diskursen zirkulieren (können).
  • Sphaere - Der Ort, in dem Existenz möglich wird. Ein Akteur-Netzwerk kann als Sphaere verstanden werden. Und vice versa.

[^1]: Bruno Latour, Reassembling the social-an introduction to actor-network-theory, Oxford 2005, S. 39

[^2]: Vergleiche zur Ähnlichkeit dessen mit der Marxistischen Analyse und zur Frage, was von Latours Antifetischismus zu halten ist: Hylton White, Materiality, Form, and Context: Marx contra Latour, in: Victorian Studies, 55/4, 2013, 667–682. (hier fehlen mir, mit anderen Worten, noch eigene Gedanken)

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