2015-09-13-Abend
In Berlin zu sein hat den interessanten Effekt, dass ich es mir in einem alten Leben einrichten kann, dass mir aber seltsam fremdelnd vorkommt. All die Menschen, die ich treffen konnte in den letzten paar Tagen, all die Situationen, all die Szenerie, alles mir bekannte Elemente, wirken aus dem Abstand eines Monats in Aarhus wie ein Handschuh, der nicht mehr in gleicher Weise passen will. Das Geflecht aus Assoziationen lässt einen jedenfalls nach diesem anfänglichen - und bleibenden - Widerstand in fast gleicher Weise weitermachen. Klar wird auch, dass sich die im Kopf vorgehaltene Variante des mich umgebenden Akteurs-Ensembles mit dem hier vorgefundenen nicht in allen Punkten übereinstimmt.
Schwierig, sich hier gerade zu konzentrieren. Sitze im Wohnzimmer meiner Mutter und diese schaut gerade fern. Auch so eine Sache, die in Aarhus leichter ist, weil ich die Sprache nicht spreche. Das hier Gesagte lässt sich kaum ignorieren und ich kann dadurch sehr viel weniger flüssig schreiben. Das wiederum lässt Gedanken verkümmern, nur mühsam fließen sie so aufs digitale Papier. Was dann aufgeschrieben wird muss sehr viel bewusster vorgeformt sein. Es ist ein regelrechter Akt den Gedanken zu verschriftlichen. Diese Begrenzung der Möglichkeit des Aufschreibens durch Ablenkung ist sehr ernst zu nehmen. Diese hier für mich nervende Situation - es laufen die Nachrichten, in Anbetracht der Flüchtlingssituation verständlich, aber nichtsdestoweniger schwer dem offen zu begegnen, weil die Meinungsmaschinerie die eigene Stimme in diesen Zeiten erst recht unterdrücken möchte - lässt mich an meine eigenen Mediengewohnheiten denken, daran dass ich sonst zwischen Twitter, meiner eigenen Schreiberei und dem Browser hin- und herspringe und dass dies ebenfalls als eine Begrenzung dessen was ich aufschreiben kann, dargestellt werden könnte. Diese medienkritische Argument wäre allerdings noch mal auf die Relation zum Befund hin zu untersuchen, dass man nicht ständig schreibt, bzw. schreiben würde, wenn denn nur die Umgebungsvariablen richtig gesetzt wären. Denn ist nicht immer etwas schreibbar. Es ist im Gegenteil auch nicht so, dass ein unablässiges Aufschreiben gutes Schreiben sei. Ich bin mir also kurz gesagt nicht sicher, ob das Argument der Ablenkung so stimmt. Ablenkung mag notwendiges Übel des Schreibens sein. Jedenfalls meines Schreibens. Dementsprechend ist die Frage nicht, nach der Ablenkung überhaupt, die das Schreiben begrenzt, sondern nach der Art der Ablenkung und wie diese auf das Schreiben einwirkt. Wir eröffnen auf diese Weise im Hinblick auf die Stimulanzökonomie eine interessante Frage: Wenn man Ablenkungen nicht prinzpiell negativ konnotieren kann, wie ist dann das Verhältnis von Ablenkung zum Schreiboutput zu charakterisieren?
All die Arbeit an der Rahmung der Problematik hat zum Ziel den Zugang, erstens für die Anerkennung der profanen Vorgefundenheit, dass es auch hier die konkrete Konfiguration des Versuchsaufbaus ist, der uns interessieren muss und zweitens, dass es auch hier darum gehen muss eine realistische Beschreibung dieser Konfiguration nur nach dieser Beschreibung möglich ist. Was hingegen vorher möglich ist, ist die Konstruktion dieses Rahmens. Aber über diese spezielle Frage der Stimulanzökonomie lassen sich konkrete Aussagen nur aus empirischer Beschreibungsarbeit heraus erarbeiten. Also, z.B.:
Ich sitze im Wohnzimmer meiner Mutter am Essenstisch und habe soeben mitbekommen, dass meine Schreibsoftware - iA Writer - in der Version 3.0 erschienen ist. Ich möchte die Software gerne ausprobieren und da ich gerade ohnehin von einem Gespräch mit einer guten Freundin wiedergekommen bin und außerdem mein Hamster im Sterben liegt, will ich gern die Chance nutzen und diese Mélange aus Gedanken und Begebenheiten ins Journal schreiben. Ich setze mich also wie gesagt an den Essenstisch und beginne zu schreiben. Ich merke einen Widerstand im Schreiben, erkunde diesen Widerstand und führe ihn auf den laufenden Fernseher zurück. Ich schaue selbst so gut wie nie Fernsehen, weil ich sehr empfindlich auf die auf mediale Wirkung gebürstete Rhetorik und das Meinungstheater, was gerade im Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation auf uns niederregnet, reagiere. Dementsprechend ungeübt bin ich im Ignorieren dieser Dinge. Da ich andersherum aber hier zu Besuch bin und meiner Mutter mehr oder weniger interessiert Fernsehen schaut, während sie für mich und meinen Bruder das Essen vorbereitet, fühle ich mich nicht in der Lage neben dem Privileg einfach schreiben zu können und mich ums Essen nicht kümmern zu müssen, auch noch die Art der Medienbestrahlung zu bestimmen oder gar zu diskutieren. Man könnte auch sagen: Ich nehme mein Mitbestimmungsrecht nicht wahr und verstehe das als Zugeständnis an meine Mutter. Dass dies etwas wert ist erfahre ich intensiv, nämlich dadurch, dass ich mich auf meinen eigenen Journaleintrag kaum konzentrieren kann. Ich überlege mir verschiedene Ausweichmöglichkeiten, empfinde aber den Raumwechsel (ich möchte mit meiner Mutter den Raum teilen), als auch das Einstellen des Schreibens als keine adäquate Reaktion darauf, weil die Ablenkung nur in zweiter Linie mit dem Schreiben zu tun hat. Selbst wenn ich meine Mutter beim Kartoffeln Schälen unterstützen würde (was sie wiederum nicht möchte; ich hatte sie gefragt), würde ich den Fernseher als störend empfinden. Dementsprechend ist das hier Geschriebene Ausdruck eines sich willfährigen Aussetzens. Dieses sich selbst Dingen auszusetzen, die man aus verschiedenen Gründen nur bedingt erträgt, wirkt dann notwendig auf die Produktivität dessen aus, was man für sich selbst als seine in diesem lokalen Jetzt als hauptsächlichste Handlung identifiziert hat. Es handelt sich um eine sehr vordergründige Stimulanz, die als Akteur auf die Konstruktion dieses Journaleintrags einwirkt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich über diese Stimulanz schreiben würde, ist im Hinblick auf dieses Jetzt dann sehr hoch. Es ist nicht die einzige Stimulanz. Schreibend machte mich das neue Stück Software, die verfügbare Zeit bis zum Abendbrot und die zwei Themen (Gespräch, Hamster), die mir aufschreibbar erschienen. Aufgeschrieben habe ich dann aber schließlich diese Stimulanz. Bezüglich der Stimulanzökonomie wäre dementsprechend festzuhalten, dass sich je nach Situation die Wahrscheinlichkeiten dessen was man aufschreibt verändern. Dementsprechend wichtig ist es, die eigene Schreibsituation zu bestimmen, bzw. die eigene “Privatsphäre” (hier verstanden als Einhegung aus besonders gut disziplinierbaren Akteuren) zu schützen.
P.S.: Aus der Sicht der Toxizität, kann das Fernsehen hier als toxischer Akteur in meinem Versuchsaufbau gelesen werden, mit dem ich mich notwendig beschäftigen musste. Ich suchte ihn zu neutralisieren, was ich schaffte, in dem ich die Ablenkung produktiv zu nutzen begann.
2015-07-05-Nachmittag
Posted by martinopenmedi at 7:32 PM
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Ich will hier mal probieren etwas ausführlicher zu schreiben, wie es gerade steht und was ich eigentlich treibe. Auch unter dem Einfluss des ersten Tagebuchs von Erich Mühsam stehend. Was mir im Vergleich auffällt: Ich schreibe sehr wenig darüber, was mich umtreibt, was ich mache. Es sind oftmals nur kurze Notizen. Ich rege mich oft nur darüber auf, dass ich nichts schaffe und vermerke dann nur kurz den einen oder anderen Gedanken. Wirklich gründliches Arbeiten ist das nicht. Aber die Produktivität kommt in Bezug auf eigene Überlegungen bei mir auch häufig deshalb zum Erliegen, weil ich schlicht keine Energie habe alles gleichzeitig zu tun.
Ich habe noch 33 Tage in Berlin und dann steht Aarhus mit, ich bin mir sicher, nicht weniger herausfordernden Aufgaben und Zwängen an. Bis dorthin muss ich noch einen Auszug hinbekommen und außerdem meine Arbeit in der Uni zu einem Abschluss kriegen. Alles das wird ja auch gemacht. Ich arbeite hart daran und versuche mich gleichzeitig nicht zu überfordern (was sehr hart ist, weil ich nicht gut darin bin mich in Verhältnismäßigkeit zu üben), damit ich die dauernde Planerei und das tatsächliche Machen auch durchhalte. GTD zu implementieren fällt mir schwer. Es geht alles sehr langsam. Nicht zuletzt auch wegen des Wetters. 38° C sind’s heute. In der WG ist es aushaltbar, aber auch schon in meinem Zimmer nicht mehr. Deshalb sitze ich im Wohnzimmer und betreibe mein kleines Büro vom Esstisch her. Geht. Auch wenn es mir eigentlich nicht ganz recht ist, ständig ansprechbar sein zu müssen. Auf der anderen Seite diszipliniert es mich tatsächlich auch wirklich zu arbeiten.
Aber wie gesagt: GTD zieht sich, weil ich eine wie auch immer geartete Organisation meines Lebens lange vernachlässigt habe. Und das ist schlecht, weil ich so sicher seit Monaten nicht mehr richtig wusste, was mein Leben eigentlich ausmacht. Was es beinhaltet und welche Aufgaben damit verbunden sind. Aber Tag um Tag, Stunde um Stunde, die ich mich mit persönlicher Organisation befasse, gewinne ich an Realismus. Ich spreche z.B. nicht mehr davon meine Hausarbeit zu Benjamin und Latour noch vor Aarhus zu beenden. Das ist in Anbetracht des damit verbundenen Lesepensums schlicht utopisch.
Ich sorge mich etwas um die Übergabe der Arbeit. Denn eine Dokumentation der bisherigen Tätigkeiten zu schreiben und gleichzeitig meinen Aufgaben gerecht zu werden ist ein schwieriges Unterfangen, zumal auch jetzt schon absehbar ist, dass ich wohl nicht alle Aufgaben, die noch offen sind, erledigen kann. Dafür ist schlicht nicht genügend Zeit. Und es wäre - auch hier - utopisch in Anbetracht der anderen Dinge, die bis Aarhus anstehen, es trotzdem, obwohl ich nur für 10 Stunden in der Woche bezahlt werde, zu tun. Also plane ich es zwar alles ein, aber es bleibt unklar, ob ich es mache. Das macht mich unglücklich, weil ich nicht möchte, dass man wenn ich in Dänemark bin schlecht über mich reden wird, weil nicht alles perfekt fertig ist. Wie hält man das aus? Es könnte mir ja eigentlich egal sein…
Von meinem eigenen Denken bin ich ansonsten selbst mehr und mehr überrascht, da es zwar irgendwie mit Historiografie noch am meisten zu tun hat, aber doch weit weg führt (oder wegzuführen scheint?) von dem, was ich eigentlich machen will oder wollte. Ich meine damit, dass ich mich ja eigentlich mit der Botanikgeschichte auseinandersetzen wollte. Und jetzt beschäftige ich mit allem, nur nicht mit der Botanik! Und auch nicht mal mehr mit Geschichte. Das letzte historische Buch, i.S.v. das hat ein_e Historiker_in geschrieben, darin geht es um die Geschichte von x, liegt sicher Monate zurück. Ich lese im Augenblick fast nur Theorie. Das heißt… ich lese schon mehr als Theorie (und Essays), aber für einen Historiker verhalte ich mich irgendwie schon verdächtig. Es fehlt mir die Ruhe, Zeit und Gelegenheit mal wieder das eine oder andere zur Geschichte zu lesen. Und das ärgert mich, weil ich das schließlich sehr gerne tue und auf der Grundlage historischen Wissens mir Gedanken über die Dinge machen will. Tatsächlich läuft es eher so, dass ich Latour und ein paar andere Sachen (etwa Kittler) lese und mir dann dazu direkt Gedanken mache. Mit dem Ergebnis, dass ich fast ins Leere sprechen muss, weil ich zu wenig geschichtliche Empirie parat habe, um es zu sichern.
Nun ist aber andersrum auch nicht alles schlecht. Mit der Idee den Anarchismus ernster zu nehmen und dem Tendeziösen, den toxischen Akteuren, habe ich ein paar schöne theoretische Felder, an denen ich mich abarbeiten kann. Ich mache mir ja auch keine Sorgen, dass mir irgendwann die geistige Puste ausgeht. Ich muss nur auch mein Schaffen mit dem in Zusammenhang bringen, was ich nach außen hin bin. Und darüber hinaus auch sein will und das ist Historiker. All meine theoretischen Ideen sind daher auch nur Sprungbretter an denen entlang man das eine oder andere versuchen könnte. Das ist also alles keine schlechte Arbeit. Aber es bleibt alles - auch den Umständen geschuldet - lediglich Vorbereitung für eigentliche Essays zu all diesen Themen. Und das nervt und macht unglücklich.
Zumal auch die Stoßrichtung nicht gut mit meinem BenjaminLatour-Projekt zusammengeht. Darin versuche ich ja den Kunstwerkaufsatz als Akteur im Verlauf der Geschichte zu beschreiben. Anschließend (oder vorher, wir werden sehen) zu diskutieren, wie er von Latour bewertet wird und wie das in sein eigenes Projekt einzusortieren wäre. Und dann schließlich sage ich was dazu, wie Latours Lektüre von der aktuellen Benjaminforschung unterscheidet.
Das jedenfalls ist grob der Plan. Spannend wird das ganze vor allem dadurch, dass alle diese einzelnen Punkte sich sehr schön miteinander verweben lassen. So wirft Latour Benjamins Aufsatz “Kategorienfehler” vor, was man aber mit den Existenzweisen eher positiv bewerten muss, weil diese Überhaupt erst Zugang zu Existenzweisen schaffen. Insofern drückt Benjamin für Latour also etwas aus, was zwar nicht im richtigen Vokabular gefasst ist, nichtsdestoweniger deutlich macht, dass es sehr schwer ist von Kunst und Technik und Politik und all dem, was der Kunstwerkaufsatz spricht, so zu sprechen, dass man allen Existenzweisen gleichzeitig gerecht wird. Das sagt Latour so aber wiederum nicht.
Außerdem ist Benjamin kein schlechter Fall für das große Problem Latours die Geisteswissenschaften in seinem großen Projekt der Anthropologie der Moderne ausgeschlossen zu haben. Für ihn sind diese Positionen - er würde sie vielleicht philosophisch und soziologisch nennen - lediglich Verzerrungen und schlechte Beschreibungen. Stimmt ja irgendwie auch. Selbstreflexiver wäre es aber - und es ist mit ANT möglich - den Geisteswissenschaften einen “Mode of Existence” zuzuerkennen. Denn Theorien, Philosophien usw. schaffen ihrerseits natürlich auch Realität. Mit dem Ausschluss oben meine ich im Übrigen, dass er sie im Bestreben besseres Vokabular zu finden, dekonstruiert (oder eher noch: _re_konstruiert!) und damit verwirft. Das ist prinzipiell kein schlechtes Vorgehen und hat mich definitiv vieles gelehrt, was nicht in erster Instanz mit der ANT zu tun hat. Aber für die Beschäftigung mit der Geschichte, vor allem der Geschichte der Geisteswissenschaften, stellt sich so doch das Problem, dass wir plötzlich einer unheimlich positivistischen Geschichtsschreibung (im Bereich der Geisteswissenschaften!) gegenüberstehen. Was also tun? Man muss differenzieren. Wenn es um die Vergangenheit geht und man sich mit geisteswissenschaftlichen Dingen auseinandersetzt, dann muss man die Theorien und ihre Einflüsse auf die jeweilige Realität genauso ernst nehmen, wie man es für Götter und andere Wesenheiten nach der Forderung Latours spätestens seit den Existenzweisen macht. Warum also nicht auch für Theorien? Eine Antwort könnte lauten, dass sich in den Theorien ja Elemente befinden, die sich anderweitig verwenden lassen. Dass also die Figuration - wenn man mal so sprechen will - des Aktanten, der sich in einem Theorie-Akteur äußert nicht gut gelungen sei. Aber das ist ja gar nicht die Aufgabe. Die Aufgabe ist nicht die Bewertung dessen, sondern seine Beschreibung. Interessanter als was sein könnte - eine Frage, die man sich immer in Bezug auf die Weiterentwicklung der eigenen Theorien stellen kann und auch sollte (das mach’ ich ja gerade…) - ist für die Schreibung der Geschichte was war. Und da muss man erst recht auch vermeintlich schlecht figurierte Aktanten in ihrer Akteurshaftigkeit akzeptieren. Es fällt schnell auf, dass die Unterscheidung zwischen gut und schlecht hier eigentlich fehl am Platze ist. Jedenfalls ist daraus ersichtlich, dass das Latour’sche Projekt einer Reformulierung der Moderne sich an den Geisteswissenschaften die Zähne ausbeißt, wenn es nicht in der Lage ist, auch diesen Bereich anthropologisch zu fassen. Er gehört nämlich zur Anthropologie und Geschichte der Moderne dazu und kann nicht einfach davon abgelöst werden.
Dass es für die ANT kein Problem ist auch die Geisteswissenschaften miteinzubeziehen, zeigt man, in einem ersten Schritt, indem man auch Theorien Akteursstatus zuerkennt. Beispielhaft lässt sich das am Kunstwerkaufsatz gut zeigen. Denn bis heute wird der Aufsatz viel rezipiert und wurde erst 2013 im Rahmen der Kritischen Gesamtausagebe im Suhrkamp Verlag vom Benjamin-Forscher Burkhard Lindner neu herausgegeben. Insofern hat Charles Turner nicht ganz unrecht, dass Latour zuweilen die Handlungsmacht von Metaphern und Diagrammen unterschätzt und auch nicht überall das letzte Wort haben wird, insbesondere nicht im Bereich der in den Geisteswissenschaften häufig zu Argumentationszwecken herangezogenen Mythen, wie die des Höhlengleichnisses. Und was für Metaphern, Diagramme und Mythen stimmt, stimmt natürlich auch für Theorien, Philosophien, Essays, Gedanken, Formulierungen usw. usf. Das kann man am Kunstwerkaufsatz alles ganz gut zeigen. Auch, dass es ein wenig artikuliertes Doppelprogramm in Latours Denken gibt, nämlich: 1.) Eine Beschreibungssprache finden, die zu allem denkbaren “ja” sagen kann, wofür eine gehörige Reformulierung der bisherigen Theorielandschaft nötig ist. 2.) Die Beschreibungssprache am historischen oder anthropologischen Material austesten und anwenden. Aber das sind zwei verschiedene Bereiche. Dass diese Bereiche nicht sonderlich eindeutig voneinander getrennt sind, liegt hauptsächlich daran, dass Latour in den Science und Technology Studies unterwegs ist und in Bezug auf sein Projekt einer Anthropologie der Moderne keine Gefangenen machen muss. Würde er sich jedoch der Geschichte/Anthropologie der Geisteswissenschaften stellen müssen, dann wäre schnell klar, dass man diese beiden Bereiche auseinanderhalten muss.
Kurz: Die ANT taugt für die Geschichte der Geisteswissenschaften. Aber nur dann, wenn sie den Wesenheiten, einen Status als Akteur auch zuerkennt. (Außerdem müsste man sich mal Blumenberg dazu ansehen.)
Aber man sieht schon, dass das alles noch auf der Seite Latours stattfindet. Über Benjamin kann ich noch nicht so viel sagen. Ich muss dazu erst noch lesen. Und das wird nicht gerade wenig Zeit in Anspruch nehmen. Insbesondere weil ich, wie gesagt, gerade die Hände ohnehin voll zu tun habe. Aber es wird schon gehen. Ich freue mich schon, wenn diese merkwürdigen Tage, in denen ich mich nicht dazu bewegen kann, die Dinge einfach liegen zu lassen (und Gott sei Dank!), vorbei sind. Noch viel schöner wäre es allerdings, wenn ich das freundliche und erfreuliche Nachfragen von Freunden und Bekannten nach mir, nicht als belastend empfände. Gerade in den letzten Tagen in Berlin will man mich noch mal sehen, noch mal treffen, noch mal was mit mir machen. Und Freunde wollen mich eben nicht nur einmal sehen, sondern gern öfters. Und ich muss ständig absagen, weil mir die Kraft fehlt ständig zuzusagen. Und es fühlt fast so an, als fehlte mir auch bald die Kraft abzusagen. Ich arbeite meine Zeit ab und mache etwas in der Uni, treffe mich etwa zum Mittag in der Mensa für ein oder zwei Stündchen. Aber dann reicht es mir eigentlich auch schon. Ich will im Augenblick dann nur noch lesen, schreiben, zocken und mich ganz tief in meinem Zimmer vergraben und am liebsten, wenn überhaupt, selbstbestimmt und asynchron mit der Welt übers Internet kommunizieren. Das ist kein Ausdruck depressiver Verstimmung. Es ist alles eine Frage der Kraft und der Lust. Ist das nicht eine Rückentwicklung von meinem behaupteten “sozialer” Werden? Vermutlich schon. Oder: Vielleicht äußert sich das, was ich für sozialer Werden hielt, jetzt halt anders. Klar ist auch, dass es mir wohl fehlen wird, wenn man mich nicht mehr fragt. Ich würde sagen, würde man mich fragen, dass mir einfach die Kraft fehlt und ich aber die paar Momente, die ich mit Leuten teile gerade sehr schön finde.
2015-06-26-Abend
Schwierig mich zu konzentrieren. Aber ich will kurz diese Überlegung aufnehmen:
- “Wäre spannend: Spiele von itch.io statt von Steam, E-Books von Minimore statt von Amazon, Musik von Bandcamp statt von Spotify. Usw.” (q)
Das habe ich ähnlicher Form schön des Öfteren gedacht. Der Grund dafür ist nicht so sehr (aber auch ein bisschen), dass mir diese kleinere Orte, an denen man Medien beziehen kann, eigentlich immer besser gefallen, als die großen. Also im moralischen Sinne jetzt. Hinzu kommt, dass ich anders stimuliert werde, wenn ich dinge verkonsumiere, die weniger im Mainstream liegen und dann auch andere Dinge produziere und das scheint mir eine lohnenswerte Sache zu sein. Warum? Weil ich nicht ständig allzu Ähnliches produzieren will.
Im Hinblick auf mein Studium denke ich das auch öfters, wollte dazu gestern auch einen Tweet schreiben, ging aber nicht in der Kürze also jetzt hier:
Das Problem mit dem Privatdiskurs
Um erfolgreich und auf lohnenswerte Weise am wissenschaftlichen Austausch teilzunehmen, ist es wichtig, dass man möglichst differenzierte Beiträge produziert. Was “differenziert” in diesem Kontext heißt: Die Beiträge sollten (wobei deren Zugehörigkeit zu einem bestimmten Diskurs hier als vorausgesetzt gilt) möglichst breit die Möglichkeiten der jeweiligen Methodologie/Philosophie/des Turns/der Community usw. ausloten und das heißt, im Rahmen der Voraussetzungen der eigenen Community herausragend sein. Im Bereich der Science Studies hat das etwa Bruno Latour gemacht, mit dem Ergebnis, dass er das Scott-Programme, aus dem er am Anfang sehr ausgiebig schöpfte, weit hinter sich ließ und eine neue Soziologie erfand (alles etwas übertriebene Formulierungen…), die nicht nur innerhalb der Science Studies, sondern auch darüber hinaus eine gewisse Beachtung fand. Thomas Kuhn wäre ein anderer Fall. Es ließen sich sicherlich noch viele weitere Beispiele finden, aber schon intuitiv scheint das Gesagte zu stimmen: Je vollständiger man das eigene Feld kennt, je besser man die Regeln des eigenen Felds kennt, desto besser kann man mit oder gegen die eigene Community argumentieren. Der effektivste Weg das zu tun ist, sich mit den Voraussetzungen gut auszukennen und diese zu hinterfragen. Im Prinzip läuft im Bereich der Humanities so die “Turn-Produktion” ab.
Nun ist das aber nur eine Variante, der Produktion von differenzierten Texten (see what I’m doing here…?). Ein anderer Weg wäre sich nicht übermäßig im eigenen Feld auszukennen. Sondern sich von eher außerhalb liegenden Quellen inspirieren zu lassen.
Eigentlich kann man doch nur Interessantes produzieren, wenn man:
- Entweder alles kennt, was kanonisch zum eigenen Feld gehört
- Oder die hauptsächlichen Bewegungen kennt und zusätzlich noch Einflüsse hat, die nicht im Feld liegen
- Der Königsweg wäre, sich sowohl mit allem was zum Kanon gehört auszukennen, als auch Stimulanz jenseits vom eigenen Feld zu haben
Es gibt schon Gründe, warum Latour als neuer Hegel beschrieben wird.
P.S.: Notiz erst am nächsten Tag fertig geschrieben. Hier sei eingestanden, dass das noch sehr unausgegoren ist. Aber durchaus nicht uninteressant. Gerade die Begrifflichkeit “Privatdiskurs”.