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2015-08-10-Abend

Nachdem ich das Wochenende sehr ruhig anging und mich eigentlich kaum aus der Wohnung bewegte (war lediglich noch einmal einkaufen), machte ich heute eine größere Runde durch die Stadt: Zuerst gab ich meinen Mietvertrag beim International Center ab und wohne damit auch offiziell hier. Es ist immer noch seltsam in einem solchen, auf mich sehr teuer wirkenden, modernen Gebäude zu wohnen. Anschließend besuchte ich dann diesmal auch erfolgreich Løve’s Antikvariat und es stellt sich heraus, dass es erstens ein sehr schönes kleines Kellerantiquariat ist, dass zweitens immerhin zwei Regalbretter deutsche Bücher (und anderthalb Regale englische Bücher) im Angebot hat und drittens die deutschen Bücher zum größten Teil aus dem Bereich Avantgarde (z.B. Theorie der Avantgarde), kritische Theorie (z.B. Traditionelle und Kritische Theorie) und Marxismus (viel Brecht, wenn das zählt, etwa seine Gedichte) zu stammen scheinen. Das trifft sich sehr gut, schreibe ich doch gerade über Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz eine Hausarbeit.

Die deutschen Regalbretter im Løve's
Die deutschen Regalbretter im Løve's

Toll war, dass es sich bei dem Antiquariat anscheinend um eine Kellerwohnung zu handeln schien, wie die Küche, die in den Öffnungszeiten ebenfalls Verkaufsraum war, verriet. Zu gerne hätte ich mit der Verkäuferin kurz darüber gesprochen, aber sie war ihrerseits ebenfalls in ein Gespräch mit einer Freundin wie mir schien vertieft und so machte ich mich - fürs Erste auch ohne Buch (denn sie waren nicht ganz billig, um die 100 Dänische Kronen und für den Preis muss wenigstens ein kurzes Gespräch rausspringen…) - auf den Weg.

Nächster Halt war die Statsbiblioteket. Hier ließ ich mir einen temporären Ausweis ausstellen. Temporär deshalb, weil ich noch keine sogenannten CPR-Nummer habe und ohne diese kann man im Prinzip nichts in Dänemark machen. Na ja fast nichts. Temporäre Ausweise für die zentrale Bibliothek in Aarhus kriegt man jedenfalls, wenn man nett fragt. Die Bibliothek erstaunt vor allem wegen ihrer verhältnismäßigen Kleinheit. Der Hauptgrund dafür liegt in der Absenz eines großen Präsenzbestandes zu suchen. Wie mir erklärt wurde, müsste man Bücher bestellen und könnte diese dann am nächsten Tag abholen. Das Fehlen eines Präsenzbestandes, der es ermöglicht thematisch ähnlich einsortierte Literatur durch schlichtes Orten des gesuchten Buchs ähnliche Bücher zu finden, das Fehlen dieser Heuristik, hat vermutlich interessante Folgen. Oder: Was wäre eine Bibliothek von der Query her gedacht? Die Querylogy, oder Theorie der Abfragesysteme von @spro ist m.E. eigentlich die interessanteste Sache, die seine Beschäftigung mit dem Netz zu Tage brachte. Für mich ist die Theorie der Abfragesysteme nicht nur wegen ihrer Theorie interessant, sondern vor allem für ihre These, dass das Zeitalter des Archivs sich seinem Ende zuneigt. Im Hinblick auf die Bibliothek in Aarhus, die einen konkreten Fall dieses Wechsels darzustellen scheint, darf man nicht vergessen, dass eine Behauptung, das Zeitalter des Archivs sei vorbei, keineswegs für alle Akteure stimmen kann. Irgendjemand muss die Bücher anschaffen, die Bücher müssen irgendwie untergebracht werden, der ganze Apparat der Verfügbarhaltung für Abfragen ist nichts weniger als ein Archiv, allerdings in etwas anderer Form. Ich kenne mich zu wenig in der Geschichte von Bibliotheken allgemein und mit der in Aarhus im Speziellen aus, um beurteilen zu können, ob diese “Speichertechnologie” (man könnte wohl auch hier Plattform sagen…) in ihrer Struktur sich verändert hat. Vergleicht man diese moderne Bibliothek jedenfalls mit dem kleinen Antiquariat, dass seine Bücher nach einer anderen Art verfügbar hält, dann können wir leicht einsehen, dass diese Differenzen durchaus zu beschreiben wären. Dass ich überhaupt einsehen und charakterisieren konnte, was das Antiquariat für eine deutsche Bücherauswahl hat, liegt nicht zuletzt an der Art der Verfügbarhaltung. “Von der Query her gedacht” hieße also hier: beide Bücherspeichertechnologien, so unterschiedlich diese Akteur-Netzwerke auch konkret aussehen, mag man sich auch als Abfragen an die Datenbank der Realität vorstellen - und warum auch nicht, ich spreche ja auch ständig vom Relationalismus -, man würde aber wahrscheinlich am Ende zu etwas kommen, was man wohl gut und gerne als “gespeicherte Suche” bezeichnen könnte. Kurz: Eine Auswahlstrategie, d.h. eine Query, die in irgendeine Materialität überführt, oder besser noch: an sie gebunden wird, eine Auswahlstrategie also, die irgendwie stabilisiert wird, stellt in der Sprache der Querylogy eine gespeicherte Suche und damit eine Speichertechnologie dar.

Jedenfalls bestellte ich mir sowohl Kierkegaards (siehe Abt. 38) als auch Hans Christian Andersens Tagebücher und außerdem die Junius-Einführung von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno.

Der Ikea in Aarhus
Der Ikea in Aarhus
Eine Businformation in Aarhus
Eine Businformation in Aarhus

Anschließend machte ich mich auf den Weg zum IKEA. Mit dem Bus. Das ging auch alles. IKEA nahm mir fast die ganze Energie und außerdem eine Menge Geld ab, wobei man realistischerweise sagen muss, dass letzteres - ich kaufte ein paar Aufbewahrungssachen und außerdem eine Decke und ein Kissen, jeweils vom billigsten; alles etwa 350 DKR - in einem anderen Laden weit schlimmer ausgefallen wäre. Aber dafür war ich ja auch bei IKEA. Auf der Hin- und Rückfahrt beschäftigte mich hauptsächlich die Frage, wie man die gleichen Probleme - ein Jahr in einem fremden Land und es fehlt so ziemlich an allen Gegenständen des täglichen Bedarfs und darüber hinaus an intellektuellem und kulturellem Austausch - umgegangen ist. Wäre ich vor hundert Jahren in Aarhus angekommen, was hätte mich erwartet? Natürlich kam ich zu keinem Ergebnis, weil ich die Stadt ja noch überhaupt nicht kenne. Klar ist jedenfalls, dass ich sehr viel abhängiger gewesen wäre und wahrscheinlich im Antiquariat nachgefragt hätte, woher diese interessante Zusammenstellung kritisch-theoretischer Bücher herkam. Ich hätte mich fragen hören können: “Gehört zu dieser Zusammenstellung eine Person? Taucht diese hier öfter auf?” Und dann fiel mir auf, dass ich das ja auch heute machen kann, selbst wenn ich keineswegs so intellektuell ausgehungert bin, wie ich es vielleicht vor hundert Jahren gewesen wäre, dem Internet sei dank.

Nichtsdestotrotz scheint es mir wichtig Kontakte zu knüpfen. Ich schrieb also auch gleich mal an Matthias Heymann vom Center for Science Studies, um mich vorzustellen und verschiedene Dinge bezüglich meines Besuchs von Kursen in den Science Studies abzuklären und bekam prompt Antwort, dass ich doch gern mal vorbeikommen könne. Wird gemacht. Als ich vorhin zur Tür reinkam, traf ich außerdem auf meinen Mitbewohner M., der eine Australische Frohnatur zu sein scheint und dementsprechend angenehm gestaltete sich unser erstes Gespräch. Auch er bleibt ein Jahr. Wir redeten über unsere Bleibe, Australien, Deutschland und das Bildungssystem in den jeweiligen Ländern. Er ist 20! Ich denke, wir werden klar kommen und hoffe gleichzeitig, dass er es mit mir, einem etwas eigenbrödlerischen, aber trotzdem freundlichen Nerd, wird aushalten können.

Source: C:\fakepath\IMG_1686.jpg
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Morgen: Da die Bibliothek um 8 auf- aber schon um 17 Uhr zumacht, werde ich früh aufstehen und versuchen mir diesen Rhythmus gleich anzugewöhnen. Ohne Bibliotheksarbeit bin ich nämlich nichts. Ich werde mir Das Benjamin-Handbuch weiter zu Gemüte führen und auf die bestellte Tagebuchlektüre warten. Außerdem werde ich versuchen einzuschätzen, ob sich ein Dänisch-Kurs, den man hier kostenlos machen kann, lohnt, bzw. über dieser mir gut ins Konzept passt. Schließlich müssen eine Menge Kurse besucht und eine nicht unerhebliche Anzahl Hausarbeiten geschrieben werden. Vom darüber hinausgehenden Leseinteresse mal ganz abgesehen.

P.S.: Ach und jetzt habe ich gar nichts zu dem gesagt, womit ich mich am Wochenende hauptsächlich beschäftigt habe: Meiner Zettelkastenimplementation in DevonThink nämlich. Nun. Das wird nachgeliefert.

Source: C:\fakepath\IMG_1690.jpg
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