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2015-05-16-Nacht

Dass ausgerechnet der Ozean als Bild für meine Erkundung in der tiefen, dunklen und lebensfeindlichen Umgebung der Theorie an Halt gewinnt, hätte ich ja nicht gedacht. Metaphern sind Tools. So auch diese. Es ist daher andererseits auch nicht weiter verwunderlich. Mit zunehmender Tauchfahrt jedenfalls tauchen immer wildere, immer seltsamere Wesen - Sphären - auf, die im fahlen Licht meines U-Boots, das seinerseits meine Sphäre ist, unwirklich, fremd, unlogisch, gefährlich, also: zutiefst absonderlich erscheinen. An manchen dieser Wesenheiten fahre ich nur vorbei, andere nehme ich genauer in Augenschein, nehme Proben, versuche durch die dicken Bullaugen die Form dessen, was ich da sehe - zu sehen glaube - in eine Wirklichkeit zu übersetzen. Es ist ein mühevolles und zeitraubendes Unterfangen. Aber die Faszination besiegt wie so häufig die Trägheit. Und die Angst.


Die Heidegger-Biografie von Safranski ist in der Tat gut.[^3] Sie bringt interessante Dinge zu Tage, die in ihrer Selbstverständlichkeit selten so ausgesprochen werden und bei mir auch kaum diskutiert werden, weil ich mich so gut in ihnen gar nicht auskenne. Etwa eine konservative, religiöse und nationalistische Lebensweise kann für manche ein lebenswertes Zuhause abgeben. Nicht für mich. Aber die Möglichkeit besteht. Philosophiegeschichte und insbesondere das, was das Label des "deutschen Denkens" ausmacht ist mir zu großen Teilen unbekannt (Gleiches ließe sich auch für die deutsche Soziologie behaupten). Alles ab Kant bis wenigstens Heidegger ist mir nur schlagwortartig, fragmentarisch und oft genug nicht mal das, bekannt (und von davor brauchen wir gar nicht zu sprechen…). Nun war das bisher offenbar schlicht nicht nötig. Es gab auf dieser Ebene nichts zu verteidigen oder zu hinterfragen. Mein Wissen, das hauptsächlich der französischen Theorie und der englischsprachigen Historiografie und dabei insbesondere der historischen Epistemologie (wenn man hier Rheinberges Historiografie[^1] folgt…) entspringt, ist als Paradigma im Bereich der Wissenschafts- und Technikgeschichte so erklärungsmächtig, dass ein durchstoßen dieser Sphäre nicht nötig war. Nötig - jedenfalls für einen Großteil der Historiografie, die man so im Studium liest - ist es auch weiterhin nicht. Aber es ist interessant. Denn wärend ich ganz am Anfang noch ohne Ziel und vor allem auf der Suche nach Halt war, habe ich meine "Pocket of Order" gefunden.[^2] Dementsprechend stellt sich mir das Weitergehen, was ich zunehmend unternehme, als ein Projekt des Übersetzens dar. Vieles von dem was ich mir überlegt habe und aktuell überlege, kann beim Nachvollziehen anderer Argumente geschärft und überprüft werden. Es aktualisiert auch häufig den eigenen politischen Standpunkt und alles andere was an einem Leben so aktualisiert werden kann. Darin ist auch eine Verstärkung des eigenen Standpunkts zu sehen. Im Akt der Uebersetzung - und mein Begriff ist da immer noch sehr unausgegoren - ergeben sich dann nämlich die Einsichten. Man versucht mit dem was man da sieht etwas anzufangen, testet dieses und jenes damit aus und integriert es entweder in seinen eigenen Versuchsaufbau um eine irgendwie andere - bessere, schönere, stimmigere, aufregendere, umfassendere, etc. - Weltbeschreibung zu produzieren oder verwirft (d.h. hier: man benutzt es nicht; es heißt ausdrücklich nicht: das taugt gar nichts) es. Insofern ist das Projekt eine stetige Herausforderung an die eigene Sphäre bei gleichzeitiger Festigung derselben. Dass es dabei aber nicht nur um die Produktivität des eigenen Weltzugangs geht, ist klar. Ich will ja auch tatsächlich wissen, was in der Geschichte passiert ist. Nur war es im letzten Jahr und vielleicht sogar im Jahr davor so, dass ich zur Geschichte selbst eine art verschütettes Verhältnis hatte - wen wundert's wenn man auf der Suche nach einer Insel der Ordnung ist - und mein Interesse kehrt jetzt erst so langsam als Interesse der Geschichte von Theorien, als Geschichte der Wissenschaften und der Weltbeschreibungen zurück. Deswegen entferne ich mich auch von den Digital Humanities. Ich sagte es ja vor kurzem (siehe 2015-04-12-Nachmittag2):

"Erstaunlich wie lange es dauerte, ehe ich mir selbst eingestehen konnte, was ich in meinem Leben hauptsächlich machen will, machen kann. Lesen und Schreiben. Nicht programieren. Nicht Spiele. Lesen und Schreiben. Alles andere folgt."

Für mich ist der bessere Weg der übers Lesen und Schreiben. Dort bin ich zu Hause. So erschließe ich mir die Dinge. Das heißt nicht, dass die Digital Humanities nichts taugen, nur, dass ich dort unnötig Körner verbrennen würde, die besser ins Lesen und Schreiben zu stecken wären. Wurde mir heute im Gespräch mit einem Freund wieder deutlich, mit dem ich einst Digitale Medien studierte. Sagte, dass ich damals mein Studium abbrach, weil ich doch einer der schlechteren in unserer Gruppe war, was ich mit meinem Narzissmus nicht vereinbaren konnte und außerdem kein Coding Monkey werden wollte.

Und Coding Monkey wäre ich auch für Digital Humanities. Denn auch da wäre mir eine grundlegende Arbeit wahrscheinlich nicht möglich, wäre ich ganz anders angewiesen auf Hilfe und begäbe mich in Abhängigkeiten, die nur schwerlich vor mir selbst tragbar wären. Also bleibt es bei Text + X.

[^1]: Hans-Jörg Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg (Junius) 2007.

[^2]: Bruno Latour, Science in Action. How to follow Scientists and engineers through society, Cambridge (Havard University Press) 1987, S. 257f.

[^3]: Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland: Heidegger und seine Zeit, 7. Aufl Aufl., Frankfurt am Main (Fischer-Taschenbuch-Verl) 2011 (Fischer 15157).

2015-03-26-Morgen

In ähnlicher Weise, wie man sich die Produktion von Fakten als den Prozess der zunehmenden Befestigung von Aussagen vorstellen kann, kann man dieses Modell auch für die Lehre nutzen.[^1] Bezüglich der Ausbildung zum_zur Wissenchafts- und Technikhistoriker_in ergeben sich daraus interessante Erklärungen für häufig auftretenede Probleme. Eine Lösung könnte die Konzeption geisteswissenschaftlicher Studiengänge entlang eines Skilltrees sein.

Ewige Grundsatzdiskussionen

Das was in Seminaren häufig nervt, sind Grundsatzdiskussionen. Diese kommen zustande, weil Studis im Gegensatz zu Wissenschaftler_innen Fakten nicht als Fakten, sondern als Aussagen wie alle anderen ansehen. Und woher soll ihr Wissen um die relative Festigkeit von Fakten auch kommen? Was das aber auch bedeutet: Es ist fast vollständig dem_der Dozent_in überlassen zu erklären, warum manche Dinge Fakten und andere keine Fakten sind. Und das bedeutet häufig, dass die Blackbox (siehe [[Blackbox]] und [[BlackBoxSatz]]) - beispielsweise "dasundas ist sozial konstruiert" oder "im Diskurs zeigte sich diesesundjenes" - geöffnet werden muss. Es muss gezeigt werden, was Sozialkonstruktivismus ist - aus was es besteht und wie es entstanden ist - und es muss gezeigt werden, was mit dem Begriff "Diskurs" gemeint ist, bevor solche Sätze wie die eben genannten überhaupt Bestand vor den (und Plausibilität für die) Studis haben können.

Ruhe im Raum kann dabei auch täuschen. Wenn man den Fragen der Studis ausweicht, oder den Eindruck vermittelt diese nicht beantworten zu wollen, dann ist zwar auch Ruhe, aber kaum jemand vermag dem was vorne passiert zu folgen. Die verwendeten Fakten sind dann für die Studis nämlich keine. Vielmehr klingt das Gesagte in etwa so, wie wenn sich Sims unterhalten: Irgendwas wird artikuliert, aber es wird überhaupt nicht klar, was artikuliert wird und bleibt daher unverständlich. Mit ein bisschen Glück wird das grobe Thema klar, mehr aber nicht.

Was das außerdem bedeutet: Da wir über die Geisteswissenschaftliche Ausbildung reden, läuft hier vieles viel freier, viel offener als in anderen Bereichen der Universität ab. Man kann in den Lehrveranstaltungen daher nicht voraussetzen, dass irgendjemand von irgendwas schon gehört hat. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, wie eine geordnetere Ausbildung in unserem Bereich aussehen könnte und komme dabei eigentlich immer auf die Idee des Skilltrees, wie man ihn aus Diablo 2 kennt, zurück.

Skilltrees als Grundlage für geisteswissenschaftliche Ausbildung?

[^2]

Das, was ich oben "Fakten" nannte, könnte man nämlich auch als Konzepte bezeichnen, die es zu meistern gilt. Da Konzepte der Geisteswissenschaften verschiedentlich aufeinander aufbauen, was historisch bedingt ist, ist es sinnvoll und möglich(!) eine Reihenfolge von zu erlenenden Konzepten zu erarbeiten. Diese Reihenfolge könnte man dann als Grundlage für einen Skilltree, etwa der Wissenschafts- und Technikgeschichte, verwenden.

Am Anfang der Heldenkarriere stehen einem also prinzipiell alle Wege offen, aber nicht alle Konzepte sind sofort zugänglich, was die Realität ganz gut widerspiegelt. Außerdem passt diese Konzeption auch sehr gut auf das Problem der Auswahl, wie es Bruno Latour am Beispiel des Brettspiels Go beschreibt:

"The game of go starts from an empty board to which stones are added in successive moves. The added stones do not move around the board as, for example, in chess. Consequently, the first moves are almost entirely contingent […]. As the game progresses, however, it becomes less and less easy to play anywhere; as in the agonistic field, the results of earlier play transforms the set of future possible moves. Not all moves are equally possible […]. Indeed, some are totally impossible […], others are less likely, and some are almost necessary […]. As in the agonistic field, the changing pattern is not orderly […]"[^3]

"In terms of the analogy with "go" he began to fill his board with random moves. Consequently, as he progressed further, he realised that it was no longer possible to make just any statement on the basis of this accumulated material. In addition, our observer found himself able either to counter or support some of the arguments in the science studies literature. He could also transform them into artefacts or facts with the use of the objects he had begun to amass. He began to write articles and to operate in his own agonistic field."[^4]

In ähnlicher Weise füllt ein Studi im Verlauf seiner Ausbildung seinen Skilltree mit Punkten in verschiedenen Fähigkeitenslots. Ähnlich wie es bei Diablo 2 unmöglich war Punkte auf alle Fähigkeiten zu vergeben, ist auch im Studium die Zeit begrenzt in der der_die Studierende etwas lernen kann. Außerdem ist das was gelernt wird stark vom Zufall abhängig. Da außerdem nicht alle Konzepte zur gleichen Zeit zugänglich sind (was aus den o.g. Gründen sinnvoll ist), ist trotz der relativen Auswahlfreiheit der Studis in ihrem Studium auf diese Weise gesichert, dass sie sich ein Profil erarbeiten, dass in sich konsistent ist. Außerdem ermöglicht eine solche Studiumskonzeption, dass Seminare tatsächlich Voraussetzungen haben können, weil sichergestellt ist, dass die Student_innen die im Kurs benötigten Konzepte bereits in einer anderen Veranstaltung erarbeitet haben.

P.S.: Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dazu schonmal geblogt hab, kann es aber nicht finden. Oh, well…

[^1]: Bruno Latour, Science in Action. How to follow Scientists and engineers through society, Cambridge (Havard University Press) 1987.

[^2]: Bildquelle: How to make a Meteorb Sorceress.

[^3]: Bruno Latour, Steve Woolgar, Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Princeton (Princeton University Press) 1986, S. 247-248

[^4]: Bruno Latour, Steve Woolgar, Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Princeton (Princeton University Press) 1986, S. 255

Was soll eine historische Beschreibung?

Wenn wir eine historische Entwicklung betrachten, dann möchten wir sie gerne verstehen. Zu diesem Zweck entwickeln wir Beschreibungen. Diese funktionieren ein bisschen wie Algorithmen, nur dass man keine Anweisungen gibt, was passieren soll, sondern nacherzählt, was passiert ist: Erst passierte das, dann das, dann das. Dann das.

Die Wirklichkeit ist dabei unüberschaubar komplex. Jeder Moment ist unendlich und kann nicht in seiner Vollständigkeit abgebildet werden. Das heißt, wir müssen eine Auswahl treffen. Das führt zur Frage, was für die jeweilige Entwicklung relevant ist.

Relevant ist das, was man sagen muss, damit eine Beschreibung einer historischen Begebenheit plausibel erscheint. Relevante Informationen sind das Mindeste was nötig ist, um eine historische Entwicklung zu beschreiben.

Wie wählt man nun aus, was relevant ist? Man macht Versuche. Die Geschichtsschreibung blickt ihrerseits auf eine bemerkenswert lange Geschichte zurück. Mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung der historiografischen Praxis ist eine Unzahl möglicher systematischer Herangehensweisen an die Lösung dieser Frage aufgetaucht. Es geht jetzt darum diese Herangehensweisen in der Anwendung auf die jeweilige historische Entwicklung auszuprobieren. Dabei prüft man, ob der bei diesen Versuchen entstehende Text plausibel erscheint, also eine plausible Beschreibung der jeweiligen historischen Entwicklung ist.

Im Gespräch mit anderen Historiker_innen (oder solchen, die es werden wollen...), lässt sich auf diese Weise herausfinden, ob das was uns plausibel erscheint, auch auf Andere so wirkt. Das ist so gut wie nie vollständig der Fall, aber ein gutes Zeichen, weil es die Möglichkeit der Weiterentwicklung offenlegt. Ohne dieses Potential wäre kein wissenschaftliches Arbeiten möglich.

Glücklicherweise muss man selbst nicht alle jemals gefundenen und entwickelten Herangehensweisen prüfen. Die meisten Geschichtstheorien gelten heute als überholt. Es kann sehr interessant sein, sich anzusehen, ob dieses "als überholt gelten" gerechtfertig ist, oder nicht. Vielleicht findet man einen Ansatz (wieder), der sich heute als fruchtbar herausstellt (ein solches Beispiel könnte Bruno Latours andere Form der Soziologie sein, oder Jürgen Habermas' Begriff von Theorie). Jedenfalls zeichnet sich die geschichtswissenschaftliche Landschaft trotz aller Brüche und Inkommensurabilitäten durch eine gewisse Homogenität aus, was hier vor allem heißen soll: Es könnte alles noch um ein Vielfaches idiosynkratischer sein.

Der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn hat den Begriff von der Normalwissenschaft geprägt: Es gibt Phasen, in denen wissenschaftlich außergewöhnliches passiert. Man spricht, wenn so etwas eintritt, gerne von "wissenschaftlichen Revolutionen". Newtons Beschreibung der Schwerkraft ist ein häufig zitiertes Beispiel in diesem Kontext. Vor und nach solchen revolutionären Veränderungen, bewegt sich die wissenschaftliche Entwicklung jedoch eher gleichförmig. Der Rahmen für wissenschaftliche Forschungen ist (oder eher: scheint) abgesteckt, das was herausgefunden wird, fügt sich mehr oder weniger mühelos in den Kanon des bereits bekannten Wissens ein. Diese Zeit, diese wissenschaftliche Praxis, bezeichnet Kuhn als Normalwissenschaft. Ich behaupte, dass sich die Geschichtswissenschaft, jedenfalls die Wissenschaftsgeschichte, in einer Phase der Normalwissenschaft befindet.

Das heißt: Die Geschichtsschreibung befindet sich in keiner Krise (dem Vorstadium für revolutionäre Veränderungen nach Kuhn). Man kann aus einem reichhaltigen Schatz derzeitig als zumindest immer von einigen Mitgliedern der geschichtswissenschaftlichen Community als plausibel angesehenen Erklärungsentwürfen einen (oder mehrere) Auswählen und mit diesem eine historische Entwicklung zu beschreiben, plausibel zu machen, versuchen.

Diese Entwürfe unterscheiden sich dabei in vielerlei Hinsicht. Einige sind systematisch ausgearbeitet, andere existieren nur in praktischer Anwendung, "am Beispiel", sozusagen. Vielen dieser Entwürfe ist jedoch gemein, dass sie bestimmte Einflüsse/Faktoren kategorisieren und hierarchisieren. Sie ordnen das was zu einer historischen Entwicklung gesagt werden muss nach einer gewissen Priorität.

Am einsichtigsten wird das an den Spezialfächern der Geschichtsdisziplin. Natürlicherweise wird ein_e Technikhistoriker_in gegenüber einer Entwicklung vor allem die Bedeutung der Technik betonen, ein_e Wissenschaftshistoriker_in hingegen die Bedeutung der Wissenschaft. Konkret wird das am Beispiel der Debatte um "science based industries" bzw. "industry based science" am Ende des 19. Jahrhunderts, wobei die uneindeutige Bezeichnung hier als Indikator für die unterschiedliche Priorisierung von Faktoren vollkommen ausreicht. Und natürlich ist das keinesfalls eine perfekte Unterscheidung. Es sind unendlich viele Fälle vorstellbar, bei denen Priorisierungen entlang des eigenen Spezialgebietes nicht, oder nicht bis in die letzte Konsequenz durchgeführt werden, aber es liegt sehr nahe, dass es unwahrscheinlich ist.

Die allgemeinere Aussage bleibt jedoch für die meisten Fälle bestehen: Priorisierungen von Faktoren in Anwendung auf eine konkrete historische Entwicklung unterscheiden die schlussendliche Beschreibung dieser, geben unterschiedliche Antworten auf die Frage, warum diese plausibel ist (oder eben nicht).

Historische Einflussfaktoren sind dabei unpräzise, universell verwendbare "Behältnisse". Diese machen sehr wichtige Bewegungen möglich: den Vergleich von historischen Entwicklungen, die Assoziation von historischen Entwicklungen und Makrogeschichte.

Genau genommen ist in einzelnen Entwicklungen eine Einfluss dieser Faktoren kaum nachzuweisen. Das ist etwas, was Bruno Latour in Bezug auf "das Soziale" immer wieder stark macht. Passiert etwas, was man klassischerweise als "sozial beeinflusst" bezeichnen würde, dann ist es nicht so, dass man in den Daten auf das Soziale, was "das Passierte" beeinflusst hat, zeigen kann. Man kann unmittelbar nur auf Akteure zeigen. Man kann sagen Person X oder technische Apparatur Y hat Vorgang Z so oder so beeinflusst, das Soziale wird man hier aber nicht finden. Das Soziale in etwas zu finden ist Interpretationsleistung des_der Untersuchenden. Das Soziale ist demnach nichts, was da ist und tatsächlich handelt. Es ist eine Bezeichnung für etwas, was vom Erklärungsentwurf oder dem_der Erklärenden stammt, nicht von der historischen Entwicklung, bzw. ihrem Nachlass, den Daten.

Gleiches lässt sich über kulturelle, politische, wissenschaftliche, technische und alle anderen generischen Einflüsse sagen und nachweisen. Wie interpretieren wir diese Einflüsse aber nun ins historische Material?

Die Entscheidung, ob irgendwo ein Einfluss einer bestimmten Art vorliegt, geschieht danach, ob etwas auf uns "so wirkt", als ob dieser Einfluss besteht. Das heißt bestimmte Akteure "performen" bestimmte Arten des Einflusses. Meistens verhalten sich die Akteure mehrdeutig, was dann auch erklärt, warum überhaupt so viele unterschiedliche Erklärungsentwürfe nebeneinander bestehen können. Was aber relativ sicher bleibt (soweit die historischen Daten nicht unvollständig sind) ist, dass gehandelt wurde. Denn ohne Handlung der Akteure gibt es keine Entwicklung, ohne Interpretation der Historiker_innen schon (es ist ja bereits auch ohne Händchenhalten der Historiker_innen geschehen, sonst wären wir ja gar nicht an dem Punkt).

Für die Mikrogeschichte ist die Beschreibung, dass gehandelt wurde, ausreichend. Schwieriger wird es für die Makrogeschichte. Wie weiter oben schon gesagt, ist neben der Makrogeschichte der Vergleich und die Aufeinander/Nebeneinanderfolge von historischen Entwicklungen auf ein gerüttelt Maß Gleichmacherei angewiesen. Dafür ist die Identifikation von Faktoren da. Ich möchte diese drei Bereiche der Geschichtsschreibung gerne unter dem Begriff "relationale Geschichte" zusammenfassen, in Reminiszenz an relationale Datenbanken, die ja ihrerseits die großen Gleichmacherinnen unserer Zeit sind (was hier weder gut noch schlecht gefunden, sondern lediglich festgestellt wird).

Welchen Aspekten, denen der Mikrogeschichte oder jenen der relationalen Geschichte, man mehr Aufmerksamkeit schenkt, hängt zumeist auch vom jeweils gewählten Erklärungsmodell ab. Wir sind nun an einem interessanten Punkt: Wir haben gesagt, dass Mikrogeschichte, das heißt in unserem Fall, die eigentliche Beschreibung der historischen Entwicklung, keine Faktoren und dementsprechend auch keine Priorisierung der generischen Faktoren braucht. Wenn man den Akteuren einer Entwicklung folgt, dann landet man bei einer der Entwicklung inhärenten Ordnung, ganz ohne auf unpräzise Sammelbezeichnungen zurückgreifen zu müssen. Wie kann es jetzt angehen, dass einige Erklärungsmodelle ihren Schwerpunkt auf die relationale Geschichte legen, wo es doch hauptsächlich um das Aufdecken dieser Ordnung geht? Es geht doch erst nach dem Aufdecken dieser Ordnung darum eine Zuordnung und Vergröberung, ein Gleichmachen, des Vorgefundenen durchzuführen?

Das Ergebnis einer Anwendung solcher Modelle an eine historische Entwicklung ist eine notwendigerweise unscharfe Geschichtsschreibung. Ein gutes Beispiel dafür bietet die marxistisch geprägte Geschichtsschreibung des frühen 20. Jahrhunderts. So wurde Newtons Beschreibung der Gravitation bei Boris Hessen zum Ausdruck marxistischer Theorie, der Akteur Newton (fast) unwichtig und vernachlässigbar.

Fazit

Was soll eine historische Beschreibung nun also? Meiner Meinung nach hat eine historische Beschreibung zwei hierarchisch gestaffelte Funktionen: Die erste und wichtigste Funktion ist der jeweils betrachteten Entwicklung gerecht zu werden und sie plausibel zu machen, d.h. sie zu beschreiben. Die zweite Funktion ist diese Beschreibung für die relationale Geschichte und damit für die geschichtswissenschaftliche Community auswertbar zu machen.

Literatur

  • Kuhn, Thomas S., The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1996.
  • Latour, Bruno, Reassembling the social-an introduction to actor-network-theory, Oxford 2005.
  • Hessen, Boris, The Social and Economic Roots of Newton's Principia, Science at the Crossroads, London 1931.
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