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Sunday, September 13, 2015

2015-09-13-Nacht

Nur noch kurz die Bemerkung, dass es mir gut geht. Es geht mir gut.

Und dann noch, dass ich Hoffnung habe. Verständnis auch. Hoffnung, ob der Tatsache, dass sich an der Flüchtlingssituation die Chance auf ein Europa abzeichnet, dass mir lebenswert vorkommt. Es scheint mir, als wenn ich ein Gefühl dafür entwickle, dass ich irgendwo hinzugehöre. Und diese Zugehörigkeit möchte sich als Zugehörigkeit zur Gesellschaft äußern. Wobei Gesellschaft und Zugehörigkeit hier meint, dass die mich umgebenden Leute zunehmend bedeutsam für die Konstruktion des Kollektivs wird, die später Gesellschaft genannt wird. Und das sieht man am ehesten an solchen Dingen wie der humanitären Hilfe. Wenn ich Menschen in meinem Alter sehe, die im Fernsehen interviewt werden, dann macht mich das glücklich, dann setzt es in mir das Gefühl frei, dass Leute meiner Generation bedeutsam für die Gestaltung der Zukunft sind. Leute meiner Generation nehmen nicht mehr nur Teil, sondern sorgen dafür, dass anderen die Möglichkeit zur Teilnahme am europäischen Projekt gegeben wird. Und solche Szenen sind konstitutiv für das Selbstverständnis derjenigen, die so langsam das Erbe als Leitgeneration antreten werden müssen. Diese Geste ist allein schon deshalb umso stärker, weil die Möglichkeit der Privilegsübertragung - sozusagen die umgedrehte Repräsentation - stets nur aus einer Position der Macht kommen kann. Mit dieser zunehmenden Macht meiner Generation, man kann hier auch Bedeutung verwenden, steigt die Verantwortlichkeit wie die Chance politischer Veränderungen. Wenn wir in der Lage sind all den neuen Leuten auf mehr als nur der emotionalen Ebene zu begegnen, dann halte ich die Chance für groß, dass sich in zwei oder drei Generationen ein Europa zeigen wird, dessen Grenzen sich nicht mehr in den Kategorien Konservierung und Sicherheit ihre Beschreibbarkeit erarbeiten müssen, sondern entlang einer Kultur des Versuchs sich Lebensmöglichkeiten konstruieren lassen. Provenienz von Akteuren als serendipes Merkmal von Kollektiven bei gleichzeitiger Priorisierung der Pertinenz. Das wäre die Hoffnung. Die Möglichmachung von Politik jenseits von Repräsentation, d.h. jenseits des professionellen Politikbetriebs. Das wäre mein Wunsch.

Die neue Politik wäre eine Politik jenseits der Demokratie. Sie wäre eine Politik der Beschreibung und des Versuchs. Eine Politik der Akzeptanz des Tendenziösen in Akteuren.

Weniger geheimnisvoll: Die repräsentative Demokratie ist nicht meisterbar (…was zu Nachfolgendem führt…) und inzwischen so weit institutionalisiert, dass deren Produktion (i.S.v. Aufrechterhaltung) einen hochkomplexen Ausbildungsbetrieb nötig macht. Das, was man klassischerweise als Gesellschaft bezeichnet, wird selbst durch das Ensemble aller als real geltender (d.h. seiender) Akteure, kurz: dem Kollektiv, hergestellt und muss nicht nur in der Demokratie, die die Gesellschaft aber nicht das Kollektiv repräsentiert, die Möglichkeit des guten Sprechens mit- und übereinander gewährleistet werden. Die Bilder der humanitären Hilfe vermitteln mir den Eindruck, dass die Möglichkeit des guten Sprechens mit all den neuen Akteuren das Potential auf Realisierung hat. Man spricht miteinander, man teilt miteinander. Und diese Assoziationen von neuen Akteuren, denen aus meiner Generation, die den Staffelstab derjenigen aus Deutschland und Europa übernehmen, die bisher das politische Bewusstsein ausmachten und jenen, die hier aufgrund von Bürgerkriegen kommen, erarbeiten gemeinsam eine neue Form der Diplomatie, eine neue soziale Ordnung, die tatsächlich zwischen den Menschen geboren wird und dort produktiv wird und sich nicht an der alten antiken mimetischen Theorie orientiert (d.h. hier: man imitiert auf der Straße das was von den Volksvertreter_innen in einer Art Theater vorgespielt wird). Uns kommt zugute, dass die rezente “Politikverdrossenheit” dazu führte, dass sich sehr viele meiner Generation in außerpolitischen Organisationen, d.h. außerhalb der professionell-politischen Sphäre eine Orientierung erarbeiteten, die außerhalb der Möglichkeiten dieser Sphäre liegen.

2015-09-13-Abend

In Berlin zu sein hat den interessanten Effekt, dass ich es mir in einem alten Leben einrichten kann, dass mir aber seltsam fremdelnd vorkommt. All die Menschen, die ich treffen konnte in den letzten paar Tagen, all die Situationen, all die Szenerie, alles mir bekannte Elemente, wirken aus dem Abstand eines Monats in Aarhus wie ein Handschuh, der nicht mehr in gleicher Weise passen will. Das Geflecht aus Assoziationen lässt einen jedenfalls nach diesem anfänglichen - und bleibenden - Widerstand in fast gleicher Weise weitermachen. Klar wird auch, dass sich die im Kopf vorgehaltene Variante des mich umgebenden Akteurs-Ensembles mit dem hier vorgefundenen nicht in allen Punkten übereinstimmt.


Schwierig, sich hier gerade zu konzentrieren. Sitze im Wohnzimmer meiner Mutter und diese schaut gerade fern. Auch so eine Sache, die in Aarhus leichter ist, weil ich die Sprache nicht spreche. Das hier Gesagte lässt sich kaum ignorieren und ich kann dadurch sehr viel weniger flüssig schreiben. Das wiederum lässt Gedanken verkümmern, nur mühsam fließen sie so aufs digitale Papier. Was dann aufgeschrieben wird muss sehr viel bewusster vorgeformt sein. Es ist ein regelrechter Akt den Gedanken zu verschriftlichen. Diese Begrenzung der Möglichkeit des Aufschreibens durch Ablenkung ist sehr ernst zu nehmen. Diese hier für mich nervende Situation - es laufen die Nachrichten, in Anbetracht der Flüchtlingssituation verständlich, aber nichtsdestoweniger schwer dem offen zu begegnen, weil die Meinungsmaschinerie die eigene Stimme in diesen Zeiten erst recht unterdrücken möchte - lässt mich an meine eigenen Mediengewohnheiten denken, daran dass ich sonst zwischen Twitter, meiner eigenen Schreiberei und dem Browser hin- und herspringe und dass dies ebenfalls als eine Begrenzung dessen was ich aufschreiben kann, dargestellt werden könnte. Diese medienkritische Argument wäre allerdings noch mal auf die Relation zum Befund hin zu untersuchen, dass man nicht ständig schreibt, bzw. schreiben würde, wenn denn nur die Umgebungsvariablen richtig gesetzt wären. Denn ist nicht immer etwas schreibbar. Es ist im Gegenteil auch nicht so, dass ein unablässiges Aufschreiben gutes Schreiben sei. Ich bin mir also kurz gesagt nicht sicher, ob das Argument der Ablenkung so stimmt. Ablenkung mag notwendiges Übel des Schreibens sein. Jedenfalls meines Schreibens. Dementsprechend ist die Frage nicht, nach der Ablenkung überhaupt, die das Schreiben begrenzt, sondern nach der Art der Ablenkung und wie diese auf das Schreiben einwirkt. Wir eröffnen auf diese Weise im Hinblick auf die Stimulanzökonomie eine interessante Frage: Wenn man Ablenkungen nicht prinzpiell negativ konnotieren kann, wie ist dann das Verhältnis von Ablenkung zum Schreiboutput zu charakterisieren?

All die Arbeit an der Rahmung der Problematik hat zum Ziel den Zugang, erstens für die Anerkennung der profanen Vorgefundenheit, dass es auch hier die konkrete Konfiguration des Versuchsaufbaus ist, der uns interessieren muss und zweitens, dass es auch hier darum gehen muss eine realistische Beschreibung dieser Konfiguration nur nach dieser Beschreibung möglich ist. Was hingegen vorher möglich ist, ist die Konstruktion dieses Rahmens. Aber über diese spezielle Frage der Stimulanzökonomie lassen sich konkrete Aussagen nur aus empirischer Beschreibungsarbeit heraus erarbeiten. Also, z.B.:

Ich sitze im Wohnzimmer meiner Mutter am Essenstisch und habe soeben mitbekommen, dass meine Schreibsoftware - iA Writer - in der Version 3.0 erschienen ist. Ich möchte die Software gerne ausprobieren und da ich gerade ohnehin von einem Gespräch mit einer guten Freundin wiedergekommen bin und außerdem mein Hamster im Sterben liegt, will ich gern die Chance nutzen und diese Mélange aus Gedanken und Begebenheiten ins Journal schreiben. Ich setze mich also wie gesagt an den Essenstisch und beginne zu schreiben. Ich merke einen Widerstand im Schreiben, erkunde diesen Widerstand und führe ihn auf den laufenden Fernseher zurück. Ich schaue selbst so gut wie nie Fernsehen, weil ich sehr empfindlich auf die auf mediale Wirkung gebürstete Rhetorik und das Meinungstheater, was gerade im Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation auf uns niederregnet, reagiere. Dementsprechend ungeübt bin ich im Ignorieren dieser Dinge. Da ich andersherum aber hier zu Besuch bin und meiner Mutter mehr oder weniger interessiert Fernsehen schaut, während sie für mich und meinen Bruder das Essen vorbereitet, fühle ich mich nicht in der Lage neben dem Privileg einfach schreiben zu können und mich ums Essen nicht kümmern zu müssen, auch noch die Art der Medienbestrahlung zu bestimmen oder gar zu diskutieren. Man könnte auch sagen: Ich nehme mein Mitbestimmungsrecht nicht wahr und verstehe das als Zugeständnis an meine Mutter. Dass dies etwas wert ist erfahre ich intensiv, nämlich dadurch, dass ich mich auf meinen eigenen Journaleintrag kaum konzentrieren kann. Ich überlege mir verschiedene Ausweichmöglichkeiten, empfinde aber den Raumwechsel (ich möchte mit meiner Mutter den Raum teilen), als auch das Einstellen des Schreibens als keine adäquate Reaktion darauf, weil die Ablenkung nur in zweiter Linie mit dem Schreiben zu tun hat. Selbst wenn ich meine Mutter beim Kartoffeln Schälen unterstützen würde (was sie wiederum nicht möchte; ich hatte sie gefragt), würde ich den Fernseher als störend empfinden. Dementsprechend ist das hier Geschriebene Ausdruck eines sich willfährigen Aussetzens. Dieses sich selbst Dingen auszusetzen, die man aus verschiedenen Gründen nur bedingt erträgt, wirkt dann notwendig auf die Produktivität dessen aus, was man für sich selbst als seine in diesem lokalen Jetzt als hauptsächlichste Handlung identifiziert hat. Es handelt sich um eine sehr vordergründige Stimulanz, die als Akteur auf die Konstruktion dieses Journaleintrags einwirkt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich über diese Stimulanz schreiben würde, ist im Hinblick auf dieses Jetzt dann sehr hoch. Es ist nicht die einzige Stimulanz. Schreibend machte mich das neue Stück Software, die verfügbare Zeit bis zum Abendbrot und die zwei Themen (Gespräch, Hamster), die mir aufschreibbar erschienen. Aufgeschrieben habe ich dann aber schließlich diese Stimulanz. Bezüglich der Stimulanzökonomie wäre dementsprechend festzuhalten, dass sich je nach Situation die Wahrscheinlichkeiten dessen was man aufschreibt verändern. Dementsprechend wichtig ist es, die eigene Schreibsituation zu bestimmen, bzw. die eigene “Privatsphäre” (hier verstanden als Einhegung aus besonders gut disziplinierbaren Akteuren) zu schützen.

P.S.: Aus der Sicht der Toxizität, kann das Fernsehen hier als toxischer Akteur in meinem Versuchsaufbau gelesen werden, mit dem ich mich notwendig beschäftigen musste. Ich suchte ihn zu neutralisieren, was ich schaffte, in dem ich die Ablenkung produktiv zu nutzen begann.

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