2015-07-26-Vormittag
Lese tatsächlich gerne Zeitung auf Papier. Hm. Und ich lese auch mehr Nachrichten auf Papier. Und außerdem scheint es mir, als ob ich auf diese Weise gründlicher dabei bleibe. Das mag aber auch daran liegen, dass ich mir nebenbei anders Notizen mache und nicht alle fünf Minuten bei Twitter gucke oder irgendetwas nachgoogle. Hilfreich scheint mir meine Kladde zu sein, die beim Lesen neben mir liegt. Darin vermerke ich dann so etwas wie "Türkisches Militär greift Ziele auf syrischem Gebiet an, ohne syrische Grenze zu überschreiten?!". Und dann ist der Gedanke festgehalten und gleichzeitig aus dem Kopf. Das ist etwas, was ich von GTD definitiv übernommen habe: Schaffe für alles, was du hast Repräsentationen, bzw. und das wäre die Transformation, die ich vornehmen würde, schaffe für Alles Artikulationen. Diese erhöhen nämlich die Redundanz. Solange es irgendeine Artikulation gibt, ist dafür gesorgt, dass etwas, zumindest ein bisschen, existiert, bzw. sich auf dem Weg zur Realität befindet. D.h. es wird realisiert oder verwirklicht. Deshalb ist Artikulieren auch immer ein Akt der Organisation und Planung: Da Akteure immer Projekte sind, sind Artikulationen immer Äußerungen einer Realität, die erst noch hergestellt werden muss.
Ansonsten habe ich große Freude daran, dass ich heute so früh wach geworden bin und daran, dass ich vor allen Anderen Dinge tun konnte. Darin steckt eine gewisse Befriedigung, in diesem "vor". Vermutlich stimmt das auch fürs Schlafen gehen. Und da ich ja glücklicherweise festgestellt habe, dass mein Hauptproblem bezüglich des Schlafs darin zu bestehen scheint, dass ich mehr Schlaf als andere brauche und mir das nicht eingestehen wollte, wäre früher Schlaf der nächste logische Schritt. Ich trinke ja nichts mehr und mein Interesse für Partys ist dementsprechend geschrumpft. Und mit Larry David (jedenfalls in Curb Your Enthusiasm) und David Foster Wallace und vielen anderen wäre ich in guter Gesellschaft was frühes Aufstehen anbelangt. Es scheint mir mehr und mehr möglich zu sein das Leben zu führen, was ich jetzt und hier führen will, weil ich einfach nicht mehr so viele Ficks auf Teilhabe an der Welt der Coolness gebe. Ich bin eh auf meine Weise cooler als alle anderen, weil ich einer der wenigen Menschen bin, der tatsächlich erstmal alles ernst nimmt. And I like it like that!
Dinge haben Bedeutung. Und die Bedeutung der Dinge ist schwerlich dadurch runterzuspielen (hätte beinahe "relativieren" gesagt, aber das Wort hat für mich eine positive Konotation…), dass man sie für runterspielbar hält. Mir sind Leute am liebsten, die glauben etwas würde etwas bedeuten. Allerdings stimmt das nur, wenn sie dabei nicht vergessen, dass andere ebenfalls Bedeutsames in Dingen sehen. Und für mich ist es so, dass ich versuche jene Leute zu verstehen und möglicherweise auch zu überzeugen, dass ihre Überzeugungen immer im Wechselspiel mit anderen Überzeugungen stehen und deshalb relativ sind. Ich halte das für produktiv und außerdem auch für die Lösung von Problemen. Wenn wir akzeptieren könnten, dass Realität lokal und relational produziert wird und dass weder bedeutet, dass sich dann um eine künstliche Realität handelt, noch, dass es eine unwirkliche, weil nur lokal existierende, Realität sei, dann wäre das ernst Nehmen von Leuten, die Dinge ernst nehmen und Leute ernst nehmen, die ihrerseits Dinge ernst nehmen möglich. Am Ende geht es also um ein symmetrtisches Argument: Wer Dinge ernst nehmen kann, kann auch Leute ernst nehmen. Akteure können Akteure ernst nehmen. Und ich mag jene, die es tun.
Ein großes Problem mit so einer Wochenendstaz ist, dass sie über 50 Seiten hat. Nun weiß ich ja, dass man nicht alles zu lesen braucht. Und das will ich ich ja auch gar nicht. Aber trotzdem ist das fast ein bisschen zu viel Text um daraus eine ruhige Auswahl zu treffen. Ruhe scheint es nur zu geben, wenn man sich alles angesehen hat. Aber dafür hat man nicht die Zeit. Ich habe heute etwa 90 Minuten Zeitung gelesen und lediglich 11 Seiten (allerdings vollständig) geschafft. Ich halte die Zeiteinheit für gut, bin mir aber nicht sicher, ob 1/5 der Zeitung ein guter Schnitt ist. Andererseits geht es mir ja um die Inhalte. Vielleicht müsste man sich eine papierne Zeitung wie eine Website denken, wie Taz.de etwa. Auch dort würde ich in ähnlicher Weise einige Artikel ganz lesen, aber der Hauptmodus würde eher ein Anlesen sein. Wahrscheinlich müsste man so eine Zeitung sogar noch eher als eine Timline, wie bei Twitter o.Ä. denken: Würde ich, der ich knapp über 200 Leuten Folge jeden Tweet lesen, dann würde ich nichts Anderes mehr tun. Deshalb lese ich so gut wie nie Tweets nach, außer ich habe gerade nichts Besseres zu tun. Jedenfalls ist es doch bemerkenswert, dass man ein papierenes Erzeugnis wie eine Zeitung "ganz" lesen will. Zugegebenermaßen geht mir das bei Taz.de auch manchmal so. Ich finde es daher ziemlich gut wie Ars Technica und andere es lösen: Da gibt es einen Counter (wie einen Tweetcounter bei Tweetbot mit den noch offenen, ungelesenen Tweets) mit den neuen und noch zu lesenden Artikeln. Vermutlich würde diese Art der Darstellung dann aber gar nicht dazu führen, dass man jeden Artikel liest, sondern, ähnlich wie bei Twitter, dass man alles einmal (und nur einmal! - außer es gibt besondere Umstände) ansieht. Das gibt dann "Closure", wie man im Englischen so schön sagt. Das ist der Trick: Closure herstellen. Papierne Zeitungen machen das durch ihre medieninhärente Begrenztheit. Websites am besten durch Counter (bin mir aber sicher, dass es noch andere Varianten gibt). Warum will ich dann trotzdem meine Zeitung komplett lesen? Das liegt vermutlich daran, dass ich dafür Geld bezahlt habe. Und da jedes Medienangebot, für das man komplett bezahlt in der heutigen Zeit etwas Besonderes ist, will ich das Gefühl haben, dass ich die 3,50€ auch sinnvoll, aber vor allem voll, verkonsumiert habe. Das müsste sich ändern, wenn ich Zeitungen auch weiterhin mit Genuss lesen wollte: Es geht nicht darum alles zu lesen. Diese Zeiten sind vorbei. Mir fällt dabei Erich Mühsam ein, der auf der Kur und dann später aufgrund fehlenden Lesematerials fast verkümmert.
Das ist eigentlich keine uninteressante Geste: Zeitungen und Bücher und all die anderen Medienerzeugnisse vor unserer Zeit im Vergleich zu den Medien meiner Sozialisation zu sehen. Also nicht zu sagen: "So ein E-Book ist ja ein Buch, aber plus x und minus y…", sondern zu sagen "Ein Buch ist ja ein E-Book, aber plus x und minus y…". Das ist sehr produktiv. Ob das eine gute Beschreibung ist? Wäre jedenfalls mal einen Essay wert, sich anzusehen, wie diese Geste in der Vergangenheit im Prinzip ständig angewandt worden ist: Kittler mit seinem Computer, schaut durch das Silizium hindurch auf die Mediengeschichte, Benjamin schaut vom Standpunkt der Reproduktionsmedien auf die gleiche Historie. Und jetzt? Hähnels Versuch einer Mediengeschichte und -anthropolgie, gedacht und erforscht aus dem Zeitalter der Plattformen und Netzwerke? Das scheint mir nicht so interessant wie die Geschichte und Geschichtlichkeit der Mediengeschichte und -anthropologie, die sich mehr und mehr als eine Netzwerk- und Plattformengeschichte und -anthropologie "entbirgt" (hier durchaus im Heidegger'schen Sinn, why not…).
2015-07-23-Abend
Posted by martinopenmedi at 10:58 PM
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Die aktuelle Situation lässt sich als eine Mischung aus Einsicht und schlechtem Gewissen beschreiben. Einsicht: Ich weiß immer besser was zu tun ist. Schlechtes Gewissen: Ich mach’ es nicht ausreichend. Sehr gut funktioniert für mich allerdings der Zettelkasten. So gut, dass ich kaum noch zum Bloggen komme, weil einfach alles besser im Zettelkasten aufgehoben ist. Was mir auch aufgefallen ist: Wie sehr es bezüglich seiner eigenen Überlegungen wichtig ist, sich bewusst zu werden wo diese herkommen, weil es sehr gut möglich ist, dass die eigenen Überlegungen Ausdruck von anderen Dingen sind, die wiederum viel besser mit anderen Tools beschreibbar sind. Oder jedenfalls müssen diese Dinge dann auch mit einbezogen werden. Und so ist theoretisieren wohl auch immer Therapieren.
Bezüglich Aarhus - und es ist ja nicht so, als ob das nicht alles zusammengehört - sieht es soweit ganz gut aus, wenn man davon absieht, dass ich auch hier lethargisch bin. Mein ganzes Leben eine einzige Verzögerung bis zum Tod. Immerhin machte ich heute den Auslandsbafögantrag fertig. Sonst gibt es auf dieser Ebene nicht viel zu berichten, außer, dass ich jetzt langsam los will. Ich denke viel über Lethargie und Anfänge und Verzögerungen und Unterbrechungen nach. Und komme zu dem Ergebnis, dass das alles zusammengehört: Da jeder Neuanfang schwer fällt und jede Unterbrechung einen Neuanfang nötig macht - jedenfalls, wenn das was unterbrochen wird, wichtig ist - dann ist es am besten möglichst unterbrechungslos zu existieren. Deshalb will ich gern diese Zwischenzustand, in dem so viele unterschiedliche Dinge zu erledigen sind, hinter mir lassen. Oder genauer: Ich möchte, dass der Zustand nicht ist. “Glücklicherweise” werde ich dank der Realität die nächsten 14 Tage (ES SIND NUR NOCH 14 TAGE) also dafür sorgen müssen, dass sich dieser gewünschte Zustand einstellt. Tun will ich nichts. Aber ich will, das was durchs Tun möglich wird. Das Ziel ist das Ziel. Auszug, Übergabe der Arbeit. Das sind die letzten beiden Dinge.
Erfreulicherweise geht es mit dem Arbeiten, wenn ich nicht so genau hingucke, was ich da eigentlich arbeite. Eigentlich müsste ich mich mit Benjamin und Latour beschäftigen oder wenigstens die zwei offenen Fragen zur Historiografie und zur Lehre in der Wissenschafts- und Technikgeschichte beantworten, die zwischen mir und 12(!) ECTS-Punkten stehen.
Auch die Hausarbeit zum Kunstwerkaufsatz liegt, weil ich gerade an den Sphären herumlese und es ist wirklich ein Herumlesen, weil Sloterdijk durch seine historische Herleitung seiner Überlegungen so viele Dinge berührt, die mich berühren und mit denen ich mich nicht auskenne. Case in Point: Geistesgeschichte. Ähnlich wie Positivismus ein Wort, wie “der Teufel”. Ich werde bei so etwas ja immer hellhörig. Geistesgeschichte umformuliert, damit lässt sich sicher was machen. Mir ist auch bewusst geworden, wie bestimmte historische Konstellationen (“wissenschaftliche Revolution”, “Französische Revolution”, Industrialisierung, Imperialismus, Aufklärung, Ende 19. Jahrhundert, die zwei Weltkriege, Weimarer Zeit, usw.) Prüfsteine für neue historiografische Formen sind. Es wiederholt sich hier das, was Blumenberg für absolute Metaphern meint. Dass sie nicht abschließend beantwortbar sind. Es gibt in gewisser Weise keine “Lösung”. Es gibt nur die eine oder andere Art damit umzugehen. Und die relative Wichtigkeit der Prüfsteine oder Knotenpunkte, durch die die Geschichte fließen muss, informiert uns über den Entwurf, bzw. den Rahmen (als “Frame of Reference”). Eins ist jedenfalls klar: Diese Prüfsteine lokalisieren die Rahmung. Eine zu starke Bewertung etwa der deutschen Aufklärung, oder eine zu schwache Bewertung der Rolle Europas in der Geschichte lokalisiert Geschichte und schränkt ihren Gültigkeitsanspruch ein. Das wiederum trifft nur auf Geschichte zu, die mehr als Chronologie ist (wobei man sich hier streiten könnte - ist nicht auch Kalenderzeit eine westliche Erfindung? Und ist Chronologie je “nur” Chronologie?). Klar ist auch, dass sich diese Rahmungen in Beziehung bringen lassen und sich so ein Bild herausschält, dass unbesehen all dieser unterschiedlichen Ansätze doch zumindest diese Knotenpunkte gemeinsam zu haben scheint. Wie schafft man diese Knotenpunkte? Sind diese immer offensichtlich? Ergeben diese sich diskursiv? Es ist, wenn auch total offensichtlich, einigermaßen erstaunlich, dass sich die Geistesgeschichte, die Sozialgeschichte, die historische Anthropologie und diskursanalytische Ansätze erstaunlich treffsicher auf immer die gleichen Knotenpunkte (in der Historiografie des Westens) beziehen. Die Erklärungen sind anders. Die Relationen zwischen den Knotenpunkten sind anders. Aber die Punkte sind erstaunlich stabil!
Auswahl und Bewertung der Knotenpunkte und deren Verbindung steht immer in Relation zur Lokalisierung. Lokalisierung ergibt sich aus der Rahmung. All diese Relationen funktionieren in beide Richtungen. Könnte Dialektik sein. Aber ich denke darüber eher als Akteurs-Ensemble nach: Insofern ergibt sich die Spatialität und Temporalität einer Rahmung aus dem jeweiligen Versuchsaufbau. Wir können nämlich alle diese Begriffe als Akteure denken und auch leicht (mehr oder weniger) sehen, dass diese provisorische Identifikation von Must-Haves in historiografischen Versuchsaufbauen als epistemische Produkte Weltbeschreibungen nach sich ziehen, die auf Grund ähnlicher Aufbauten zwar ähnliche Produkte produzieren, aber selbst mit einem komplett geklonten Ensemble, würde sich Aufgrund von Emergenzeffekten notwendig immer ein bisschen etwas Anderes ergeben. Und doch kann man von Ähnlichkeit sprechen.
Interessant ist jetzt trotzdem der empirische Befund: Wie kommt das konkret zu Stande? Hält diese oberflächliche Beobachtung einem empirischen Forschungsprogramm stand? Das ist der entscheidende Test. Deswegen sind Instanzen auch von Bedeutung. Es müssen so genau wie möglich die jeweiligen Versuchsaufbaue nachvollzogen und affirmiert werden und dann muss man schauen, ob sich diese Ähnlichkeiten wirklich ergeben und wie diese Zustande kommen. Meine Vermutung ist, das sich erstens diese Versuchsaufbaue in ständigem Kontakt zueinander entwickelt haben und zweitens das vorliegende Quellenmaterial im wesentlichen endlich ist und drittens eins und zwei in einer Diskursivität zusammenfallen, d.h. Versuchsaufbaue und ihre Produkte ihrerseits irgendwann zu Quellen werden und vice versa (das ist sehr Foucault’ianisch), wobei Zeit hier als jene Qualität von Geschichte anzusehen wäre, die sich einstellt, wenn Akteure aufeinandertreffen. Hier muss man aber für eine bessere Trennschärfe den Unterschied Produktion und Konsumtion hinweisen. Denn “fühlt” sich je nach dem das zu Beschreibende anders an und es stellt sich auch anders dar. Entscheidend ist dabei, dass es um das noch nicht Fertige geht. Wichtig ist jetzt aber, dass sich das Gesagte im Sinne Latours auf alle beziehen soll. D.h. ich sage nicht das zählt nur für Kommunikation, oder den Diskurs, oder die Schrift, oder für Dinge, sondern es soll für alles gelten. D.h. obwohl Ziel dieser ganzen mehr oder weniger vorsichtigen Rahmung meinerseits hier eine bestimmte Arbeit ist, ist der Punkt der Arbeit die Möglichkeit der Affirmierung aller möglichen Rahmungen (terms and conditions apply) und das heißt: universelle Anwendbarkeit.
Glücklicherweise hat Bruno Latour ja schon ein großes Stück des Wegs mit den Existenzweisen zurückgelegt, so dass sich das hier beschriebene auch folgendermaßen ausdrücken lässt: Ziel ist das Auffinden einer vergessenen Existenzweise, nämlich die der Geisteswissenschaften selbst.
Ich bin selber nicht sehr glücklich mit der hier gegebenen Formulierung. Was sicher daran liegt, dass ich sie hier einfach so aus dem Ärmel schüttelte, aber es geht einfach darum diejenige Einstellung zu finden, nach der man die ANT auf die Geisteswissenschaften so anwenden kann, wie man es für alle anderen Existenzweisen kann. Und anschließend/gleichzeitig geht es darum die ANT für den Bereich der Geschichte der Geschichtsschreibung/Geisteswissenschaften (ich sprechen in Zukunft vielleicht einfach von Geistesgeschichte…) brauchbar zu machen (das ist sie in gewisser Weise ja schon, glaube ich jedenfalls), wofür eine Reformulierung historiografischer Allgemeinplätze nötig ist (das ist sehr produktiv).
Hrm. Habe Skrupel das so zu veröffentlichen. Zu viel Geschwurbel, zu wenig Wissen, zu schlecht formuliert. Aber es war ja nur ein Versuch. Und es ist ja nur ein Journaleintrag unter vielen.
2015-07-05-Nachmittag
Posted by martinopenmedi at 7:32 PM
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Ich will hier mal probieren etwas ausführlicher zu schreiben, wie es gerade steht und was ich eigentlich treibe. Auch unter dem Einfluss des ersten Tagebuchs von Erich Mühsam stehend. Was mir im Vergleich auffällt: Ich schreibe sehr wenig darüber, was mich umtreibt, was ich mache. Es sind oftmals nur kurze Notizen. Ich rege mich oft nur darüber auf, dass ich nichts schaffe und vermerke dann nur kurz den einen oder anderen Gedanken. Wirklich gründliches Arbeiten ist das nicht. Aber die Produktivität kommt in Bezug auf eigene Überlegungen bei mir auch häufig deshalb zum Erliegen, weil ich schlicht keine Energie habe alles gleichzeitig zu tun.
Ich habe noch 33 Tage in Berlin und dann steht Aarhus mit, ich bin mir sicher, nicht weniger herausfordernden Aufgaben und Zwängen an. Bis dorthin muss ich noch einen Auszug hinbekommen und außerdem meine Arbeit in der Uni zu einem Abschluss kriegen. Alles das wird ja auch gemacht. Ich arbeite hart daran und versuche mich gleichzeitig nicht zu überfordern (was sehr hart ist, weil ich nicht gut darin bin mich in Verhältnismäßigkeit zu üben), damit ich die dauernde Planerei und das tatsächliche Machen auch durchhalte. GTD zu implementieren fällt mir schwer. Es geht alles sehr langsam. Nicht zuletzt auch wegen des Wetters. 38° C sind’s heute. In der WG ist es aushaltbar, aber auch schon in meinem Zimmer nicht mehr. Deshalb sitze ich im Wohnzimmer und betreibe mein kleines Büro vom Esstisch her. Geht. Auch wenn es mir eigentlich nicht ganz recht ist, ständig ansprechbar sein zu müssen. Auf der anderen Seite diszipliniert es mich tatsächlich auch wirklich zu arbeiten.
Aber wie gesagt: GTD zieht sich, weil ich eine wie auch immer geartete Organisation meines Lebens lange vernachlässigt habe. Und das ist schlecht, weil ich so sicher seit Monaten nicht mehr richtig wusste, was mein Leben eigentlich ausmacht. Was es beinhaltet und welche Aufgaben damit verbunden sind. Aber Tag um Tag, Stunde um Stunde, die ich mich mit persönlicher Organisation befasse, gewinne ich an Realismus. Ich spreche z.B. nicht mehr davon meine Hausarbeit zu Benjamin und Latour noch vor Aarhus zu beenden. Das ist in Anbetracht des damit verbundenen Lesepensums schlicht utopisch.
Ich sorge mich etwas um die Übergabe der Arbeit. Denn eine Dokumentation der bisherigen Tätigkeiten zu schreiben und gleichzeitig meinen Aufgaben gerecht zu werden ist ein schwieriges Unterfangen, zumal auch jetzt schon absehbar ist, dass ich wohl nicht alle Aufgaben, die noch offen sind, erledigen kann. Dafür ist schlicht nicht genügend Zeit. Und es wäre - auch hier - utopisch in Anbetracht der anderen Dinge, die bis Aarhus anstehen, es trotzdem, obwohl ich nur für 10 Stunden in der Woche bezahlt werde, zu tun. Also plane ich es zwar alles ein, aber es bleibt unklar, ob ich es mache. Das macht mich unglücklich, weil ich nicht möchte, dass man wenn ich in Dänemark bin schlecht über mich reden wird, weil nicht alles perfekt fertig ist. Wie hält man das aus? Es könnte mir ja eigentlich egal sein…
Von meinem eigenen Denken bin ich ansonsten selbst mehr und mehr überrascht, da es zwar irgendwie mit Historiografie noch am meisten zu tun hat, aber doch weit weg führt (oder wegzuführen scheint?) von dem, was ich eigentlich machen will oder wollte. Ich meine damit, dass ich mich ja eigentlich mit der Botanikgeschichte auseinandersetzen wollte. Und jetzt beschäftige ich mit allem, nur nicht mit der Botanik! Und auch nicht mal mehr mit Geschichte. Das letzte historische Buch, i.S.v. das hat ein_e Historiker_in geschrieben, darin geht es um die Geschichte von x, liegt sicher Monate zurück. Ich lese im Augenblick fast nur Theorie. Das heißt… ich lese schon mehr als Theorie (und Essays), aber für einen Historiker verhalte ich mich irgendwie schon verdächtig. Es fehlt mir die Ruhe, Zeit und Gelegenheit mal wieder das eine oder andere zur Geschichte zu lesen. Und das ärgert mich, weil ich das schließlich sehr gerne tue und auf der Grundlage historischen Wissens mir Gedanken über die Dinge machen will. Tatsächlich läuft es eher so, dass ich Latour und ein paar andere Sachen (etwa Kittler) lese und mir dann dazu direkt Gedanken mache. Mit dem Ergebnis, dass ich fast ins Leere sprechen muss, weil ich zu wenig geschichtliche Empirie parat habe, um es zu sichern.
Nun ist aber andersrum auch nicht alles schlecht. Mit der Idee den Anarchismus ernster zu nehmen und dem Tendeziösen, den toxischen Akteuren, habe ich ein paar schöne theoretische Felder, an denen ich mich abarbeiten kann. Ich mache mir ja auch keine Sorgen, dass mir irgendwann die geistige Puste ausgeht. Ich muss nur auch mein Schaffen mit dem in Zusammenhang bringen, was ich nach außen hin bin. Und darüber hinaus auch sein will und das ist Historiker. All meine theoretischen Ideen sind daher auch nur Sprungbretter an denen entlang man das eine oder andere versuchen könnte. Das ist also alles keine schlechte Arbeit. Aber es bleibt alles - auch den Umständen geschuldet - lediglich Vorbereitung für eigentliche Essays zu all diesen Themen. Und das nervt und macht unglücklich.
Zumal auch die Stoßrichtung nicht gut mit meinem BenjaminLatour-Projekt zusammengeht. Darin versuche ich ja den Kunstwerkaufsatz als Akteur im Verlauf der Geschichte zu beschreiben. Anschließend (oder vorher, wir werden sehen) zu diskutieren, wie er von Latour bewertet wird und wie das in sein eigenes Projekt einzusortieren wäre. Und dann schließlich sage ich was dazu, wie Latours Lektüre von der aktuellen Benjaminforschung unterscheidet.
Das jedenfalls ist grob der Plan. Spannend wird das ganze vor allem dadurch, dass alle diese einzelnen Punkte sich sehr schön miteinander verweben lassen. So wirft Latour Benjamins Aufsatz “Kategorienfehler” vor, was man aber mit den Existenzweisen eher positiv bewerten muss, weil diese Überhaupt erst Zugang zu Existenzweisen schaffen. Insofern drückt Benjamin für Latour also etwas aus, was zwar nicht im richtigen Vokabular gefasst ist, nichtsdestoweniger deutlich macht, dass es sehr schwer ist von Kunst und Technik und Politik und all dem, was der Kunstwerkaufsatz spricht, so zu sprechen, dass man allen Existenzweisen gleichzeitig gerecht wird. Das sagt Latour so aber wiederum nicht.
Außerdem ist Benjamin kein schlechter Fall für das große Problem Latours die Geisteswissenschaften in seinem großen Projekt der Anthropologie der Moderne ausgeschlossen zu haben. Für ihn sind diese Positionen - er würde sie vielleicht philosophisch und soziologisch nennen - lediglich Verzerrungen und schlechte Beschreibungen. Stimmt ja irgendwie auch. Selbstreflexiver wäre es aber - und es ist mit ANT möglich - den Geisteswissenschaften einen “Mode of Existence” zuzuerkennen. Denn Theorien, Philosophien usw. schaffen ihrerseits natürlich auch Realität. Mit dem Ausschluss oben meine ich im Übrigen, dass er sie im Bestreben besseres Vokabular zu finden, dekonstruiert (oder eher noch: _re_konstruiert!) und damit verwirft. Das ist prinzipiell kein schlechtes Vorgehen und hat mich definitiv vieles gelehrt, was nicht in erster Instanz mit der ANT zu tun hat. Aber für die Beschäftigung mit der Geschichte, vor allem der Geschichte der Geisteswissenschaften, stellt sich so doch das Problem, dass wir plötzlich einer unheimlich positivistischen Geschichtsschreibung (im Bereich der Geisteswissenschaften!) gegenüberstehen. Was also tun? Man muss differenzieren. Wenn es um die Vergangenheit geht und man sich mit geisteswissenschaftlichen Dingen auseinandersetzt, dann muss man die Theorien und ihre Einflüsse auf die jeweilige Realität genauso ernst nehmen, wie man es für Götter und andere Wesenheiten nach der Forderung Latours spätestens seit den Existenzweisen macht. Warum also nicht auch für Theorien? Eine Antwort könnte lauten, dass sich in den Theorien ja Elemente befinden, die sich anderweitig verwenden lassen. Dass also die Figuration - wenn man mal so sprechen will - des Aktanten, der sich in einem Theorie-Akteur äußert nicht gut gelungen sei. Aber das ist ja gar nicht die Aufgabe. Die Aufgabe ist nicht die Bewertung dessen, sondern seine Beschreibung. Interessanter als was sein könnte - eine Frage, die man sich immer in Bezug auf die Weiterentwicklung der eigenen Theorien stellen kann und auch sollte (das mach’ ich ja gerade…) - ist für die Schreibung der Geschichte was war. Und da muss man erst recht auch vermeintlich schlecht figurierte Aktanten in ihrer Akteurshaftigkeit akzeptieren. Es fällt schnell auf, dass die Unterscheidung zwischen gut und schlecht hier eigentlich fehl am Platze ist. Jedenfalls ist daraus ersichtlich, dass das Latour’sche Projekt einer Reformulierung der Moderne sich an den Geisteswissenschaften die Zähne ausbeißt, wenn es nicht in der Lage ist, auch diesen Bereich anthropologisch zu fassen. Er gehört nämlich zur Anthropologie und Geschichte der Moderne dazu und kann nicht einfach davon abgelöst werden.
Dass es für die ANT kein Problem ist auch die Geisteswissenschaften miteinzubeziehen, zeigt man, in einem ersten Schritt, indem man auch Theorien Akteursstatus zuerkennt. Beispielhaft lässt sich das am Kunstwerkaufsatz gut zeigen. Denn bis heute wird der Aufsatz viel rezipiert und wurde erst 2013 im Rahmen der Kritischen Gesamtausagebe im Suhrkamp Verlag vom Benjamin-Forscher Burkhard Lindner neu herausgegeben. Insofern hat Charles Turner nicht ganz unrecht, dass Latour zuweilen die Handlungsmacht von Metaphern und Diagrammen unterschätzt und auch nicht überall das letzte Wort haben wird, insbesondere nicht im Bereich der in den Geisteswissenschaften häufig zu Argumentationszwecken herangezogenen Mythen, wie die des Höhlengleichnisses. Und was für Metaphern, Diagramme und Mythen stimmt, stimmt natürlich auch für Theorien, Philosophien, Essays, Gedanken, Formulierungen usw. usf. Das kann man am Kunstwerkaufsatz alles ganz gut zeigen. Auch, dass es ein wenig artikuliertes Doppelprogramm in Latours Denken gibt, nämlich: 1.) Eine Beschreibungssprache finden, die zu allem denkbaren “ja” sagen kann, wofür eine gehörige Reformulierung der bisherigen Theorielandschaft nötig ist. 2.) Die Beschreibungssprache am historischen oder anthropologischen Material austesten und anwenden. Aber das sind zwei verschiedene Bereiche. Dass diese Bereiche nicht sonderlich eindeutig voneinander getrennt sind, liegt hauptsächlich daran, dass Latour in den Science und Technology Studies unterwegs ist und in Bezug auf sein Projekt einer Anthropologie der Moderne keine Gefangenen machen muss. Würde er sich jedoch der Geschichte/Anthropologie der Geisteswissenschaften stellen müssen, dann wäre schnell klar, dass man diese beiden Bereiche auseinanderhalten muss.
Kurz: Die ANT taugt für die Geschichte der Geisteswissenschaften. Aber nur dann, wenn sie den Wesenheiten, einen Status als Akteur auch zuerkennt. (Außerdem müsste man sich mal Blumenberg dazu ansehen.)
Aber man sieht schon, dass das alles noch auf der Seite Latours stattfindet. Über Benjamin kann ich noch nicht so viel sagen. Ich muss dazu erst noch lesen. Und das wird nicht gerade wenig Zeit in Anspruch nehmen. Insbesondere weil ich, wie gesagt, gerade die Hände ohnehin voll zu tun habe. Aber es wird schon gehen. Ich freue mich schon, wenn diese merkwürdigen Tage, in denen ich mich nicht dazu bewegen kann, die Dinge einfach liegen zu lassen (und Gott sei Dank!), vorbei sind. Noch viel schöner wäre es allerdings, wenn ich das freundliche und erfreuliche Nachfragen von Freunden und Bekannten nach mir, nicht als belastend empfände. Gerade in den letzten Tagen in Berlin will man mich noch mal sehen, noch mal treffen, noch mal was mit mir machen. Und Freunde wollen mich eben nicht nur einmal sehen, sondern gern öfters. Und ich muss ständig absagen, weil mir die Kraft fehlt ständig zuzusagen. Und es fühlt fast so an, als fehlte mir auch bald die Kraft abzusagen. Ich arbeite meine Zeit ab und mache etwas in der Uni, treffe mich etwa zum Mittag in der Mensa für ein oder zwei Stündchen. Aber dann reicht es mir eigentlich auch schon. Ich will im Augenblick dann nur noch lesen, schreiben, zocken und mich ganz tief in meinem Zimmer vergraben und am liebsten, wenn überhaupt, selbstbestimmt und asynchron mit der Welt übers Internet kommunizieren. Das ist kein Ausdruck depressiver Verstimmung. Es ist alles eine Frage der Kraft und der Lust. Ist das nicht eine Rückentwicklung von meinem behaupteten “sozialer” Werden? Vermutlich schon. Oder: Vielleicht äußert sich das, was ich für sozialer Werden hielt, jetzt halt anders. Klar ist auch, dass es mir wohl fehlen wird, wenn man mich nicht mehr fragt. Ich würde sagen, würde man mich fragen, dass mir einfach die Kraft fehlt und ich aber die paar Momente, die ich mit Leuten teile gerade sehr schön finde.