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2015-08-02-Nacht

Wie ich eben so durch die Straßen des Weddings ging, einmal zum Rebel Room und wieder zurück und all das sah, was der Wedding ist und unter dem Eindruck dessen, was ich bei Felsch (siehe auch) lesen konnte, stellte sich mir die Frage danach, ob mir dieser Ort eigentlich noch lag. Sicher, ich gehe nächste Woche für ein Jahr ins Ausland, aber meine Gedanken sind in den letzten Tagen und Wochen hauptsächlich damit beschäftigt, wie es wohl sein wird, wenn ich aus Dänemark zurückkehre. Ergebnis dessen: Ich ziehe raus aus der Mitte der Stadt, irgendwohin, wo es noch Platz gibt, wo die Mieten ausreichend günstig sind. Denn ich brauche die Freiheit der Gestaltung, eine gewisse Leere, die es hier nicht mehr gibt. Ich wohne im Sprengelkiez, am Nordufer. Dem teuersten Kiez in ganz Wedding. Mir ist das gar nicht bewusst gewesen in der letzten Zeit: Ich lebe gedrängt. Das heißt: Eingezwängt. Es ist ein sehr reales Wohnen, was hier geschieht. Aber es ist nicht sonderlich frei. Und damit auch nicht besonders schön. Ich sitze in einem fast vollständig leeren WG-Zimmer und genieße das. Es sieht hier aus wie bei einem Kunstfilm oder einem Theaterstück: Nur die Gegenstände, die unmittelbar mein Leben sind, existieren: Eine Matratze, ein Schreibtisch und ein Stuhl, paar Klamotten, was zum Lesen und was zum Schreiben. Der Rest ist Balast und unnötig. Nimmt mir den Platz und die Luft und den Mut. Oder jedenfalls die Chance darauf. So fühlt es sich an. Es ist ja richtig, dass wir uns mehr und mehr in enorme Akteur-Ensembles verpacken, aber es ist auch richtig, dass all diese Akteure mit uns in Assoziationen stehen und an uns nagen und unsere Aufmerksamkeit wollen. Deswegen ist Leere auch in Zeiten da die Dinge wieder da sind von so großer Bedeutung. Ich bin immer nur mit dem Unmittelbaren konfrontiert. Deswegen ist es angebracht, das Unmittelbare im Hinblick auf seine Aushaltbarkeit zu gestalten. Wobei es nicht darum gehen kann irgendetwas zu negieren. Ziel muss immer Affirmation sein! Ja sagen. Zu allem. Aber das vor allem im Modus der Möglichkeit. Die Lebensumstände diktieren regelrecht, dass sich dazu dann aber auch eine nüchterne Bereitschaft des Tragens der sich so zusammenaffirmierten Realität gesellt. Und das ist aus stimulanzökonomischer Perspektive nicht immer sinnvoll. Soll heißen: Das Ja bleibt, wenn man es mit dem Sternchen ausstattet, dass das eigene Leben nicht alles ist oder sein kann oder sein sollte, aber sein könnte!

So lebe ich jedenfalls besser. Und das ist auch das Ziel: Eine Freiheit zu finden, in der man gestalterisch durchaus ernsthaft und zielstrebig an der Verwirklichung/Realisierung des eigenen Standpunkt arbeitet. Ich glaube, dass das heute aber nicht mehr im Kern der neoliberalen Stadt geschehen kann, sondern am Stadtrand, oder jedenfalls dort, wo die Mieten billig und die Lagen prekär sind. Dort wo “niemand” hinziehen will. Der Abstand zum Hexenkessel des umkämpften Zentrums kann dabei gleich als Analogie dienen: Da auch theoretisch der Standpunkt zwar nicht egal aber relational wird und gleichzeitig die Spatialität allein nicht mehr Auskunft über die Relationalitäten des jeweiligen Akteurs geben kann, solange bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind (Anschluss ans Internet, Anschluss an den ÖPNV, Lebensunterhalt, etc.), ist der Ort auf unserem Planeten gleichzeitig wichtiger und unwichtiger: Auf der einen Seite unwichtiger, weil man an jedem Ort Verwirklichung betreiben kann und auf der anderen Seite wichtiger, weil es eine Frage der Leere und der Freiheit (hier als Absenz von Akteuren) ist, wie die Entfaltung aussieht. In der Innenstadt bin ich mithin ständig Akteuren ausgesetzt, die ich mir nicht ausgesucht habe. Das ist gut, weil es Emergenzeffekte hat. Das ist schlecht, weil ich mir das Akteursensemble nicht aussuchen kann. Am Rand bin ich weniger Akteuren ausgesetzt, ich bin vielmehr in der Lage selber Akteure auszusetzen. Das ist gut, weil ich auf diese Weise mehr Kontrolle habe, was einer Beschneidung von Emergenzeffekten gleichkommt.

Da mit den verschiedenen Netzen, allen voran dem Internet, meine Auswahl- und Filtermöglichkeiten in großem Maße steigen, ergibt sich daraus: Dass erstens diese Differenzen weniger wichtig werden und dass zweitens die Kontrolle in Form von Leere das interessantere Merkmal ist. Diese Überlegung geht mit der an den Darstellungen der Urbanität als Traumerfüllungs- und sowieso einzig erstrebenswerte Lebenssphäre insofern zusammen, als dass sie zu sagen versucht: Ja, das stimmt, Städte sind auch weiterhin Ballungsräume aus guten Gründen (nämlich der Emergenz) ebendiese, aber eine Art urbane Wildnis, die es noch und wieder zu entdecken gilt, stellen die Randbezirke der Stadt dar, die Partizipation bei gleichzeitig größerer Kontrolle ermöglichen.

Das ist jedenfalls die Hoffnung, mit der ich aus Dänemark wiederzukommen hoffe. Und dann ziehe ich also nach Spandau oder sonstwohin, oder nach Brandeburg, jedenfalls irgendwo hin, wo man noch Stadt sagt, aber das Land schon riechen kann. Den Rand eben. Und dann schaut man, was man an dieser Kante - so sie denn eine ist - alles treiben kann.

All diese Überlegungen machen mir jedenfalls klar, wie unheimlich aufwändig es ist Weg zu machen. Da ich ohnehin mein Leben in den letzten zwei Jahren vom restlichen Leben als abgetrennt betrachte - davor war die Zeit, in der ich, spätinfantil und depressiv, überhaupt nichts tat und begriff - ist es trotzdem fast körperlich schmerzend, wie wenig ich immer noch aufbreche. Gemeint damit ist, dass ich all die Energie in den Jahren vor diesem Leben und bis weit in die Gegenwart hinein mit der Erfüllung eines Konformismus verschwendete, für den ich schlicht und ergreifend nicht geschaffen bin. Gleichzeitig bin ich für die Aufopferung im Dienste der Geisteswissenschaften anscheinend wie gemacht. Die glühende Intensität, mit der ich hier ganze Tage ausschließlich lesend und schreibend verbringe geben davon ebenso Zeugnis, wie die Tatsache, dass wenn ich andere Leute treffe, ich an ihnen vor allem die explorativen Gespräche schätze.

Wenn ich nicht so müde wäre und die Zeit nicht so drücken würde, dann könnte ich hier noch so einiges mehr Schreiben. Es gibt so viel noch zu sagen und zu reflektieren und zusammenzubringen. Ich kann es schon gar nicht mehr erwarten in der Leere von Aarhus zu sein!

Das Zeitalter des aufrichtig nett Seins

Im Zeitalter des aufrichtig nett Seins, betreiben wir auch wieder Philologie. Weil wir darauf Bock haben. Wir respektieren einander für unsere sehr verschiedenen Realitäten und den Weg, den wir genommen haben, um zu ihnen zu gelangen. Im Zeitalter des aufrichtig nett Seins ist uns klar, dass das Gesten der Kritik und der Ironie narzisstisch sind. Und uns interessiert aber stets der, die oder das andere. Im Zeitalter des aufrichtig nett Seins wollen wir einander füreinander begeistern, ohne dabei unrealistisch zu sein. Manchmal sehen wir Dinge einfach ein, weil wir wissen, dass es sich bei Diskussionen nicht um gewinnbare Gefechte handelt. Wir lassen einander gewinnen, oder zumindest in dem Wissen, dass wir es gerne täten, erlaubte das unsere Realität. Im Zeitalter des aufrichtig nett Seins machen wir nicht einfach und zweifeln auch nicht die ganze Zeit. Wir haben uns etwas überlegt und wollen etwas versuchen. Ob es uns gelingen wird, weiß man jetzt noch nicht zu sagen, aber das ist in Ordnung. Wir wollen einander unsere Unsicherheit nicht verheimlichen.

2015-06-23-Nachmittag

(gibt es auch als Hörfassung)

Zurück vom Spaziergang am Nordufer entlang. Der regenerische Tag und meine Grundstimmung vermischt sich einerseits mit dem erdigen, feuchten Geruch und andererseits mit einer Hörfassung von Tucholskys Schloss Gripsholm. Und dann ist da noch Herrndorf, der sich hier irgendwo am Nordufer das Leben nahm. Meine Großeltern in Schweden. Ich wünsche mir, dass sie den Text kennen. Tucholsky über das Schloss: “Ich weiß nichts vom Stil dieses Schlosses – ich weiß nur: wenn ich mir eins baute, so eins baute ich mir.”

Ausnahmsweise mal schöne Melancholie. In mir klingt außerdem noch das Sentiment dieses Latour-Artikels in der Zeit nach:

”Latour ist Realist und Spieler genug, um zu sagen: Philosophische Fantasien seien es, die ihn umtreiben. Fiktion, Realität: Nie wisse man restlos eindeutig, was das sei.”

Sehe ich das auch so? Mir geht manchmal sicher die Distanziertheit verloren. Denn so wie sich Latour um die Moderne sorgt, sorge ich mich um Latour. Und das ist schon auch ein bisschen peinlich. Muss an ein Gespräch heute mit meiner Mutter denken. Über Geborgenheit. Kann man die einfordern? Für sich? Für andere? Und was ist das eigentlich? Mein Handyakku stirbt und plötzlich fehlt da der Tucholskyhumor, der die eigene Lächerlichkeit abmildert.

Ich gehe zurück und vorbei an den Häusern dieses winzigen Fleckchens Berlins, dass mir so lieb ist. Ich gehe vorbei an den Häusern am Nordufer, am Objekt der Wohnungsbaugenossenschaft 1892 vorbei - hier würde ich gern wohnen, denke ich - das gelbliche Weiß und die schönen Balkone mit den vielen Blumen. Und die Innenhöfe. Hier hatte ich mir vor einer Weile eine Wohnung angesehen. Und nun würde es schon bald nach Dänemark, nach Aarhus (man spricht es Århus), gehen. Für ein Jahr. Jedenfalls fast. Und dort dann im Prinzip das Gleiche, was ich hier mache. In Bibliotheken sitzen und lesen und schreiben und mit dem Internet leben. Und umherspazieren.

Würde ich danach zum Nordufer zurück dürfen? Könnte ich das bezahlen? Jedenfalls würde ich das wollen. Dieser winzige Streifen zwischen Ufer Café und Plötzensee bedeutet mir etwas und ich kann mich hier leben sehen. Ich sage leben und meine mehr als existieren. Irgendetwas liegt hier in der Luft, oder es ist die Anordnung der Häuser, vielleicht die Möglichkeit auf der anderen Seiten den Westhafen zu sehen. Vielleicht ist es die Erinnerung an das Gefängnis Plötzensee und seine düstere Vergangenheit, die mich Glücksgefühle, die ich hier empfinde, als geerdet und damit rechtmäßig anerkennen lässt.

Ich will eigentlich gar nicht weg. Und es ist schon allein deshalb gut, dass ich gehe. Denn dann kann wiederkommen.

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