2015-08-30-Abend
Wenig ist passiert im Reich der theoretischen Praxis. Ich schreibe und lese die letzten Tage wenig. Wobei dieser Satz genau genommen schon falsch ist. Er impliziert nämlich eine Routine oder Gleichförmigkeit der Tage hier in Aarhus, die nicht besteht. Letzte Woche waren die sogenannten Intro Days und ich musste mich darum kümmern, dass ich am CSS überhaupt Kurse besuchen kann, was schließlich dazu führte, dass mein Semester nun folgendermaßen aussieht:
- Understanding International and Global History - 10 ECTS
- Main themes in international and global history - 10 ECTS
- Project in Science Studies - 10 ECTS
Dass ich im übrigen “mein Semester” gerade eben sagte, liegt daran, dass ich aus Sicht der Uni Aarhus mich nur auf ein Semester beworben habe, aus Sicht von Erasmus aber für zwei. Ich muss nun also etwas Bürokratie für das zweite Semester nachholen. Und. So. Weiter.
In Kaskaden bürokratischer und lebensweltlicher Kleinigkeiten, die aufkommen, wenn man, wenn auch auf Zeit, ein Leben an einem fremden Ort anfängt, geht jeder Ansatz eines Lebens, dass genügend Zeit und Muse fürs Arbeiten im Weinberg des Textes, an der theoretischen Praxis am Versuchsaufbau des eigenen Lebens, an der eigenen Sphäre im Gegurgel und Geschäume universitärer und zwischenmenschlicher Verpflichtungen unter.
- “Mache ich zu viel Theorie? Nein, es ist die praktische Welt, die falsch ist!” (q)
- “Jedenfalls: Es fehlen in dieser unwirklichen Auslandsstudiumswelt zuweilen explorative Gespräche über Theorie.” (q)
- “Ja, es fehlt Zeit. Das geht, weil der Aufenthalt hier begrenzt ist, wie die Teilnahme an Aktivitäten begrenzt möglich ist.” (q)
- “Ich finde es nicht gut, dass ich weder Muse noch Energie habe für gute Arbeit, mag aber die Gründe für diese Unmöglichkeit durchaus.” (q)
Und das ist scheiße. Aber, wie ich auch auf Twitter sagte, sind die Gründe, d.h. die mich überspülenden Ereignisse selbst durchaus schön. All die neuen Leute, die Möglichkeit sich anderen auf eine neue Art und Weise zu erklären, die vielen kleinen und größeren Zwischenmenschlichkeiten, die ich austausche, all das ist vermutlich, wofür man ins Ausland fährt. Die relative Unmöglichkeit sich nicht davontreiben zu lassen, wie ein Stück Holz auf dem Meer.
Ansonsten sind die Erlebnisse hier als Instanzen von etwas anderem betrachtet für mich privat sehr schön und sicher wichtig, aber (noch) nicht berichtenswert. Ich lasse daher all die Worte dazu vorerst auf meiner Zunge liegen und lasse mich von den Oberflächenströmungen dieses Jetzt durch Raum und Zeit tragen.
Metaphernrumspielerei. Das ist mit Susan Sontags Essay[^1], den mir dankenswerterweise @gabrielberlin neulich in die TL spülte eine interessante Problematik geworden. Das und dieser sehr kurze Barthes-Text über Kafka[^2]. In gewisser Weise besteht hier der archäologische Balanceakt darin, diese neue gefeierte und agressiv vorgetragene Oberflächlichkeit (im Gegensatz zur Mimesistheorie der Kunst und der Literatur, d.h. die Produktion von Imitaten der göttlichen Welt der Ideen) von seiner Geste her zu untersuchen. Es ist eine interessante Problematik, denn wehrt sich Sontags Essay gegen den Ikonoklasmus der Interpretation nur um seinerseits ikonokalstisch gegen die Institution der Interpretation vorzugehen. Das bringt mich zu Latour. Auch hier: Prinzipiell antiikonoklatische Haltung gegenüber der kritischen Geste und gleichzeitig dadurch ikonoklatisch gegen eben diese Geste vorgehend. Kann man sich als Historiker_in nicht leisten. Da passt, was ich bezüglich der Affirmativen Grundhaltung sagte:
”Ziel muss immer Affirmation sein! Ja sagen. Zu allem. Aber das vor allem im Modus der Möglichkeit. Die Lebensumstände diktieren regelrecht, dass sich dazu dann aber auch eine nüchterne Bereitschaft des Tragens der sich so zusammenaffirmierten Realität gesellt. Und das ist aus stimulanzökonomischer Perspektive nicht immer sinnvoll. Soll heißen: Das Ja bleibt, wenn man es mit dem Sternchen ausstattet, dass das eigene Leben nicht alles ist oder sein kann oder sein sollte, aber sein könnte!”
Und so auch hier. Historiker_innen sind Ja-Sager_innen. Also “Ja!” zur Interpretation und zur Oberflächlichkeit, “Ja!” zur Kritik und zum Kompositionismus![^3] Aber all das im Modus der Möglichkeit. Es bleibt eine Frage der Tools. Man könnte auch sagen: All das sind Legosteine, die Akteure so oder so zusammensetzen können. Und da die Möglichkeit so oder so besteht und gleichzeitig bestimmte Steine bestimmte Eigenschaften haben, ergeben sich begrenzte, wenn auch unüberschaubare, Möglichkeiten. Warum sage ich das alles?
Weil ich versuche ernsthafter über die Möglichkeit des “Nein!” außerhalb trivialer Fälle (lokale Realität sieht anders aus, es artikuliert sich offensichtlich anders) nachzudenken. Dieses “Nein!” muss in dieser Rahmung sehr hart erkämpft werden. Es ist fast immer ein politisches Nein, d.h. es ist ein Nein, dessen Aufgabe das Jenseits der bisher möglichen Beschreibung artikuliert. Es will verändern. Es will andere Zustände herstellen. Es ist damit ein Bestandteil (und gleichzeitiger Akteur) eines Versuchsaufbaus. Die Ablehnung bekannter Gesten ist zutiefst experimentell.
Ich frage mich, wie und ob aus dieser Sicht die Problematik der Geflüchteten in Europa und Deutschland zu lesen wäre.[^4] All die Neins, die wir zu hören bekommen, müssten auf ihre Relationen hin überprpüft werden. Wenn an dieser These etwas dran ist, dann müsste sich die Ablehnungen als Versuchsaufbaue lesen lassen.
[^1]: Susan Sontag, Against Interpretation, Against interpretation, and other essays, New York, N.Y (Picador U.S.A) 2001.
[^2]: Roland Barthes, Kafka’s Answer, Critical essays, Evanston [Ill.] (Northwestern University Press) 1972.
[^3]: Bruno Latour, An Attempt at a „Compositionist Manifesto“, in: New Literary History, 41, 2010, 471–490.
[^4]: Ich unterstütze im übrigen die Aktion #bloggerfuerfluechtlinge für die man hier spenden kann, wenn man finanziell dazu in der Lage ist.